Hallo an alle!
Nach nicht mal zwei Tagen fühle ich mich in diesem Forum schon so wohl, dass ich auch hier gerne eine Geschichte mit euch teilen möchte :-)
Also los …
Jedem Coming-out geht ein Impuls voraus, also ein Auslöser, warum man sich dazu entscheidet.
Mein Auslöser ist mir irgendwie peinlich und gleichzeitig bin ich auch dankbar für ihn!
Vermutlich bin ich nicht der einzige, bei dem die Netflix-Serie „Heartstopper“ alle möglichen Emotionen ausgelöst hat.
Mich traf sie aus heiterem Himmel. Ich glaubte zuerst, es wäre eine weitere Serie mit queeren Themen. Davor hab ich bereits Filme, wie „Love, Simon“, geschaut und anderes. Natürlich heimlich, wenn meine Frau nicht zuhause war oder bereits geschlafen hat. Aber diese Inhalte ließen mich immer mit einem Fragezeichen zurück. Wenn sich im TV jemand als schwul outete, dann war das zwar aufregend, die Ängste und Emotionen davor waren mir nur allzu gut bekannt, aber ich fühlte mich dennoch nicht richtig abgeholt.
Darum war für mich lange unklar, wie und wo ich meine Sexualität einstufen soll. Ich fühlte mich nie 100% hetero, aber mit Homosexuelität allein konnte ich mich auch nicht identifizieren.
Dann kam „Heartstopper“ und ich fühlte mich zum ersten Mal verstanden! Da war ein Junge, der sich plötzlich in einen anderen Jungen verliebt. Aber nicht dieses Element packte mich, sondern seine Reise und die Erkenntnisse zu seiner sexuellen Identität. Als er sich dann als „Bisexuell“ outete, war mein erster Gedanke: „Wie bitte? Das ist erlaubt? Das geht?!“
(Bis dahin hab ich Bisexualität nicht auf dem Schirm gehabt, weil es ja gerne als quasi-schwul abgestempelt wird.)
Und plötzlich war es, als hätte jemand den ersten Dominostein umgeworfen.
Ich suchte selbst nach Informationen über Bisexualität. Zuerst schlug aber nochmal die Angst zu und versuchte mir einzureden, dass ich etwas anderes als hetero nicht sein konnte (oder durfte?) - immerhin habe ich ja Frau und Kind.
Daher suchte ich Schutz unter dem Begriff „Pansexualität“ - das erschien mir sicherer und ließ viel mehr Spielraum über.
So „outete“ ich mich auch das erste Mal bei meiner Frau. Wir führten daraufhin ein wunderbares Gespräch über die Liebe, die weder Geschlecht noch sexuelle Orientierung kennt.
Aber irgendwie fühlte es sich wieder wie eine Lüge an.
Wieder zog es mich zu „Heartstopper“ hin und dann wieder und wieder und plötzlich hatte ich die Serie ganze 5x hintereinander geschaut.
Davon inspiriert suchte ich auch Podcasts über Bisexualität. Jedoch ist dieses Thema weiterhin stark unterrepräsentiert. So viel Info und Erfahrungsberichte, wie ich gebraucht hätte, gab es leider nicht.
Irgendwann landete ich bei diversen queeren Podcasts. Je mehr ich den Geschichten dieser Leute zuhörte, desto mehr fühlte ich mich ihnen zugehörig - es war egal, ob schwul, lesbisch, bi, Trans, non-binär, asexuell, inter, … und all jenen, die sich im Plus wiederfinden.
Ab da wusste ich, dass ich in der heteronormen Welt nicht mehr bleiben wollte - in dieser Welt hatte ich ohnehin nie einen Platz gefunden.
Es war Mitte August als ich mir selbst eingestand, „bisexuell“ zu sein. Damit fühlte ich mich wohl. Es erklärte, warum ich mich schon als Kind nur in Mädchen verliebte und später dann heimliche Fantasien von Männern hatte. Und es erklärt auch heute, warum mir Frauen und Männer gefallen. Ich könnte aus jetziger Sicht nicht sagen „ach, ich bin vermutlich doch nur schwul“, denn das entspricht momentan nicht meiner Wahrheit. Keine Ahnung, was die Zukunft bringt.
Ende August führte ich wieder ein tiefgründiges Gespräch mit meiner Frau und so entschied ich mich spontan, ihr von meiner Erkenntnis zu erzählen. Sie spürte bereits, dass mich etwas sehr stark beschäftigte.
Dieser Moment, als ich es ihr sagen wollte, war furchtbar. Herzrasen, als würde ich in einem abstürzenden Flugzeug sitzen, Schweißausbruch, als renne ich um mein Leben, und auf meiner Brust saß ein Elefant von der Größe eines Wolkenkratzers. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Jedes Mal wenn ich glaubte, ich könnte es aussprechen, war mein Mund wie gelähmt.
Es dauerte eine ganze Stunde - es war wie eine Folter. Als würde ich mich selbst waterboarden.
Und dann kam es heraus.
Und den Blick meiner Frau werde ich nie vergessen: ein liebevolles Lächeln auf den Lippen, vertrauensvolle Augen, die mir sagten „es ist alles okay!“
Aber es fiel mir schwer ihr länger als ein paar Sekunden ins Gesicht zu blicken. Die antrainierte Scham hatte immer noch die Oberhand.
Meine Frau war wundervoll. In diesem Moment verliebte ich mich nochmal neu in sie - was natürlich umso verwirrender für mich war, weil ich ihr doch gerade gestanden hatte, auch Männer attraktiv zu finden.
Wir hatten in den Folgewochen weitere Gespräche. Auch in ihr hatte es gearbeitet und sie wusste nicht so recht, was es nun für uns bedeuten würde. Es war von einer „offenen Ehe“ die Rede.
Da ich aber selbst noch einiges über mich herausfinden muss und die Fantasie weiterhin angenehmer scheint als die Realität, befinde ich mich momentan in der Schwebe. Hier wird die Zukunft zeigen, wie es weitergeht.
Bis jetzt bin ich nur bei meiner Frau geoutet. Das war mir das Wichtigste. Noch habe ich keinen Drang die Familie und Freunde miteinzubeziehen. Da sind ohnehin gerade Baustellen, die eine gute Kommunikation erschweren.
Außerdem wirkt der Schock meines ersten Coming-outs noch nach. Und mich schreckt auch das Zitat „nach dem Coming-out ist vor dem Coming-out“ etwas ab.
Bei einem der Podcasts sagte einer der Sprecher, dass LGBTQIA+ Personen nicht bloß ein Coming-out haben, sondern mehrere - ja, fast immer wenn man neue Menschen kennenlernt.
Bis ich also voller Stolz immer und immer wieder verkünde, wie und wer ich bin, wird noch viel Zeit vergehen.
Aber wie heißt es so schön: „Der Weg ist das Ziel.“
In diesem Sinne wünsche ich allen viel Glück und Kraft auf ihren persönlichen Reisen zu sich selbst!
P.S.: ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann, dass mein erstes Coming-out so positiv verlaufen ist.
Ich wünsche dennoch allen die Kraft und den Mut dazu, zu sich selbst zu stehen. In den Momenten, wo wir uns ehrlich vor anderen präsentieren, sind wir alle vereinigt, weil wir alle dieselben Ängste, Sorgen und körperlichen Prozesse durchmachen. Auch wenn wir also alleine diesen Weg beschreiten, wir halten im Geiste alle unsere Hände.
Und damit wünsche ich heute am 24.12.2022 allen frohe Weihnachten.
Du bist perfekt wie du bist!