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Nach dem Coming-out ist vor dem Coming-out

geschrieben von BlueHoodie 
Nach dem Coming-out ist vor dem Coming-out
24. Dezember 2022 13:14
Hallo an alle!

Nach nicht mal zwei Tagen fühle ich mich in diesem Forum schon so wohl, dass ich auch hier gerne eine Geschichte mit euch teilen möchte :-)

Also los …

Jedem Coming-out geht ein Impuls voraus, also ein Auslöser, warum man sich dazu entscheidet.
Mein Auslöser ist mir irgendwie peinlich und gleichzeitig bin ich auch dankbar für ihn!
Vermutlich bin ich nicht der einzige, bei dem die Netflix-Serie „Heartstopper“ alle möglichen Emotionen ausgelöst hat.

Mich traf sie aus heiterem Himmel. Ich glaubte zuerst, es wäre eine weitere Serie mit queeren Themen. Davor hab ich bereits Filme, wie „Love, Simon“, geschaut und anderes. Natürlich heimlich, wenn meine Frau nicht zuhause war oder bereits geschlafen hat. Aber diese Inhalte ließen mich immer mit einem Fragezeichen zurück. Wenn sich im TV jemand als schwul outete, dann war das zwar aufregend, die Ängste und Emotionen davor waren mir nur allzu gut bekannt, aber ich fühlte mich dennoch nicht richtig abgeholt.
Darum war für mich lange unklar, wie und wo ich meine Sexualität einstufen soll. Ich fühlte mich nie 100% hetero, aber mit Homosexuelität allein konnte ich mich auch nicht identifizieren.

Dann kam „Heartstopper“ und ich fühlte mich zum ersten Mal verstanden! Da war ein Junge, der sich plötzlich in einen anderen Jungen verliebt. Aber nicht dieses Element packte mich, sondern seine Reise und die Erkenntnisse zu seiner sexuellen Identität. Als er sich dann als „Bisexuell“ outete, war mein erster Gedanke: „Wie bitte? Das ist erlaubt? Das geht?!“
(Bis dahin hab ich Bisexualität nicht auf dem Schirm gehabt, weil es ja gerne als quasi-schwul abgestempelt wird.)

Und plötzlich war es, als hätte jemand den ersten Dominostein umgeworfen.
Ich suchte selbst nach Informationen über Bisexualität. Zuerst schlug aber nochmal die Angst zu und versuchte mir einzureden, dass ich etwas anderes als hetero nicht sein konnte (oder durfte?) - immerhin habe ich ja Frau und Kind.

Daher suchte ich Schutz unter dem Begriff „Pansexualität“ - das erschien mir sicherer und ließ viel mehr Spielraum über.
So „outete“ ich mich auch das erste Mal bei meiner Frau. Wir führten daraufhin ein wunderbares Gespräch über die Liebe, die weder Geschlecht noch sexuelle Orientierung kennt.
Aber irgendwie fühlte es sich wieder wie eine Lüge an.

Wieder zog es mich zu „Heartstopper“ hin und dann wieder und wieder und plötzlich hatte ich die Serie ganze 5x hintereinander geschaut.
Davon inspiriert suchte ich auch Podcasts über Bisexualität. Jedoch ist dieses Thema weiterhin stark unterrepräsentiert. So viel Info und Erfahrungsberichte, wie ich gebraucht hätte, gab es leider nicht.
Irgendwann landete ich bei diversen queeren Podcasts. Je mehr ich den Geschichten dieser Leute zuhörte, desto mehr fühlte ich mich ihnen zugehörig - es war egal, ob schwul, lesbisch, bi, Trans, non-binär, asexuell, inter, … und all jenen, die sich im Plus wiederfinden.
Ab da wusste ich, dass ich in der heteronormen Welt nicht mehr bleiben wollte - in dieser Welt hatte ich ohnehin nie einen Platz gefunden.

Es war Mitte August als ich mir selbst eingestand, „bisexuell“ zu sein. Damit fühlte ich mich wohl. Es erklärte, warum ich mich schon als Kind nur in Mädchen verliebte und später dann heimliche Fantasien von Männern hatte. Und es erklärt auch heute, warum mir Frauen und Männer gefallen. Ich könnte aus jetziger Sicht nicht sagen „ach, ich bin vermutlich doch nur schwul“, denn das entspricht momentan nicht meiner Wahrheit. Keine Ahnung, was die Zukunft bringt.

Ende August führte ich wieder ein tiefgründiges Gespräch mit meiner Frau und so entschied ich mich spontan, ihr von meiner Erkenntnis zu erzählen. Sie spürte bereits, dass mich etwas sehr stark beschäftigte.
Dieser Moment, als ich es ihr sagen wollte, war furchtbar. Herzrasen, als würde ich in einem abstürzenden Flugzeug sitzen, Schweißausbruch, als renne ich um mein Leben, und auf meiner Brust saß ein Elefant von der Größe eines Wolkenkratzers. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Jedes Mal wenn ich glaubte, ich könnte es aussprechen, war mein Mund wie gelähmt.
Es dauerte eine ganze Stunde - es war wie eine Folter. Als würde ich mich selbst waterboarden.

Und dann kam es heraus.

Und den Blick meiner Frau werde ich nie vergessen: ein liebevolles Lächeln auf den Lippen, vertrauensvolle Augen, die mir sagten „es ist alles okay!“

Aber es fiel mir schwer ihr länger als ein paar Sekunden ins Gesicht zu blicken. Die antrainierte Scham hatte immer noch die Oberhand.
Meine Frau war wundervoll. In diesem Moment verliebte ich mich nochmal neu in sie - was natürlich umso verwirrender für mich war, weil ich ihr doch gerade gestanden hatte, auch Männer attraktiv zu finden.

Wir hatten in den Folgewochen weitere Gespräche. Auch in ihr hatte es gearbeitet und sie wusste nicht so recht, was es nun für uns bedeuten würde. Es war von einer „offenen Ehe“ die Rede.
Da ich aber selbst noch einiges über mich herausfinden muss und die Fantasie weiterhin angenehmer scheint als die Realität, befinde ich mich momentan in der Schwebe. Hier wird die Zukunft zeigen, wie es weitergeht.

Bis jetzt bin ich nur bei meiner Frau geoutet. Das war mir das Wichtigste. Noch habe ich keinen Drang die Familie und Freunde miteinzubeziehen. Da sind ohnehin gerade Baustellen, die eine gute Kommunikation erschweren.

Außerdem wirkt der Schock meines ersten Coming-outs noch nach. Und mich schreckt auch das Zitat „nach dem Coming-out ist vor dem Coming-out“ etwas ab.
Bei einem der Podcasts sagte einer der Sprecher, dass LGBTQIA+ Personen nicht bloß ein Coming-out haben, sondern mehrere - ja, fast immer wenn man neue Menschen kennenlernt.

Bis ich also voller Stolz immer und immer wieder verkünde, wie und wer ich bin, wird noch viel Zeit vergehen.

Aber wie heißt es so schön: „Der Weg ist das Ziel.“

In diesem Sinne wünsche ich allen viel Glück und Kraft auf ihren persönlichen Reisen zu sich selbst!


P.S.: ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann, dass mein erstes Coming-out so positiv verlaufen ist.
Ich wünsche dennoch allen die Kraft und den Mut dazu, zu sich selbst zu stehen. In den Momenten, wo wir uns ehrlich vor anderen präsentieren, sind wir alle vereinigt, weil wir alle dieselben Ängste, Sorgen und körperlichen Prozesse durchmachen. Auch wenn wir also alleine diesen Weg beschreiten, wir halten im Geiste alle unsere Hände.

Und damit wünsche ich heute am 24.12.2022 allen frohe Weihnachten.
Du bist perfekt wie du bist!
Re: Nach dem Coming-out ist vor dem Coming-out
10. August 2023 11:36
Gerade ist die Überschrift meines Beitrags aktueller denn je.

In den vergangenen 6 Wochen habe ich einen Coming-out-Marathon hingelegt.
Auslöser war tatsächlich die Pride Parade in Wien im Juni 2023.

Und es kam ganz plötzlich. Ich hatte die Pride Parade nicht wirklich am Schirm (oder habe sie absichtlich ausgeblendet?) Jedenfalls höre ich genau am Tag davor jemanden davon sprechen und mit einem Mal breitete sich ein Verlangen in mir aus: Ich will auch dabei sein! Ich will mich endlich zugehörig fühlen! Ich will mich nicht länger einsam fühlen, …

(Anmerkung: Es war mir in diesem Moment vollkommen egal, ob mir die Parade wirklich gefallen hätte oder ob sie mir zu wild, zu bunt, zu irgendwas gewesen wäre. Mir ging es einzig und allein um das Gefühl der Zugehörigkeit.)

An jenem Tag verwandelte sich dieses Verlangen in eine riesengroße Leere in meinem Inneren. Am Tag der Pride war ich an einem emotionalen Tiefpunkt. Zudem sah ich in den Sozialen Medien, dass Freunde von mir dort waren. Und ich saß zu Hause, völlig betrübt, dass keiner meiner Freunde wusste, wie gerne ich mit ihnen mitgegangen wäre. Aber woher sollte sie das auch wissen? Diese Leere baute sich immer weiter auf, bis ich am Abend endlich genug von dem ganzen Selbstmitleid und dem Nachtrauern von verpassten Chancen hatte. Ich erzählte meiner Frau, wie sehr ich am Boden zerstört war und meinte, dass wir dringend unsere Situation besprechen müssen.

Ich wusste jetzt endlich, dass ich nicht länger an meinem alten Leben festhalten möchte, sondern es mir selbst zugestehen musste, das Leben zu führen, das mich glücklich macht. Diese Erkenntnis schreibt sich ziemlich leicht, nichtsdestotrotz brachte sie unglaublich viele Ängste und Sorgen mit sich.

Am Tag nach der Pride sprachen meine Frau und ich und entschieden uns für eine Scheidung. Dieser Schritt war notwendig, damit ich mich um mich selbst kümmern kann. Solange wir in einer Beziehung geblieben wären, hätte ich es nicht geschafft, nebenbei auch ein anderes Leben zu führen. Vielleicht klappt das für andere Menschen sehr gut, aber für mich nicht. Durch die Trennung haben wir uns aber nicht entfremdet, sondern sind uns plötzlich um vieles näher gekommen. Wir beide wollen, dass der andere glücklich sein kann. Zudem wollen wir für unsere Tochter weiterhin gute Eltern sein. Aber gute Eltern müssen nicht immer im selben Haushalt leben. Gute Eltern sind glückliche Eltern. Und glückliche Eltern können für ihre Kinder gute Vorbilder und Wegweiser sein. Wir vertrauen darauf, dass wir es schaffen.

Nun gut, nach diesem Schritt WUSSTE ich, dass ich nicht länger verstecken spielen wollte. Wenn ich frei leben wollte, dann käme ich nicht drum herum, das Leben auch an mir teilhaben zu lassen und das bedeutete, dass ich gewissen Familienmitgliedern und Freunden von mir und meinen Erkenntnissen berichten musste.

(Anmerkung: Ich weiß, dass ein Coming-out keinesfalls erzwungen werden sollte. In diesem Fall wusste ich aber, dass es sein musste. Ansonsten hätte ich mich nur weiterhin verstellt und versteckt. Außerdem hatte sich ein ungewohnter Mut in mir eingenistet, der mir sagte: Nichts kann jemals mehr so schlimm sein, wie nicht zu sich selbst zu stehen. Auch das schreibt sich wieder sehr heroisch. Dennoch bin ich weit entfernt von Mister Selbstbewusst, der plötzlich weiß, wie das Leben funktioniert.)

Zuerst war meine Mutter dran. Ich hatte furchtbare Angst. Mir kam die Nachricht über die Scheidung leichter über die Lippen. Davon war meine Mutter am meisten geschockt, weil sie meine Frau wie eine Tochter liebt. Als sie dann Dinge sagte, wie „wollt ihr es nicht noch versuchen“, wusste ich, dass ich ihr ALLES sagen musste. Und so kam es heraus.

(Anmerkung: Da mir die Bezeichnung „Bisexuell“ sehr schwer über die Lippen kommt, sage ich auch heute lieber „Mir gefallen neben Frauen auch Männer“ und damit fahre ich sehr gut.)

Meine Mutter war weiterhin wegen der Scheidung geschockt und sagte mir im Nachhinein, dass es für sie irrelevant ist, welche sexuelle Orientierung ich habe, Hauptsache ich wäre glücklich.
Auch heute hat meine Mutter immer noch leichte Schwierigkeiten mit der Scheidung, aber sie gibt selber zu, dass sie da an ihre eigene Scheidung zurückdenkt und alte Ängste aufkommen, die sie meiner Frau und mir gerne ersparen würde.

Als nächstes weihte ich gute Freundinnen ein, die allesamt positiv reagierten - auch hier war eher die Scheidung der große Schock, aber sie brachten mir auch viel Verständnis entgegen.

Die nächste größere Hürde war mein bester Freund. Wow, das war eine riesige Überwindung. Bis jetzt hatte ich es nur Frauen gesagt. Wie würde ein Mann darauf reagieren? Naja, ich hatte so eine Ahnung: er würde sich vor mir ekeln; hätte Angst, dass ich ihn anflirten könnte; möchte nicht länger mit mir befreundet sein, …. Die Möglichkeiten waren grenzenlos - und natürlich allesamt negativ!
Tja. Wieder war die Scheidung der Eisbrecher. Mein Freund war ebenso geschockt. Scheinbar haben meine Frau und ich ein wirklich solides Paar abgegeben. Als das mal draußen war, verknotete sich mein Magen. Wir gingen gemeinsam ins Kino und anschließend führte ich ihn nach Hause. Die ganze Zeit wurde der Knoten nur größer und fester. Am Parkplatz platzte es dann aus mir heraus, dass ich auch auf Männer stehe.
Stille.
Dann die Frage „Und wie gehts dir jetzt damit, dass du es mir gesagt hast?“
Ich dachte mir nur, wann steigst du aus und suchst das Weite?
Nichts da. Wieder Verständnis und zum Abschied eine Umarmung, für die ich zu verklemmt war.

Es folgten noch andere Freundinnen mit Schock und Verständnis.

Dann kam mein großer Bruder an die Reihe. Der nächste Brocken. Meine Fantasie lieferte mir wieder die schrecklichsten Bilder, wie das Gespräch ablaufen würde.
Auch hier war es wieder ein Kampf, die Worte herauszubringen. Und dann kam da wieder Verständnis und die nächste Umarmung, für die ich zu verklemmt war.
Jep, Umarmungen von Männern kann ich nur schwer ertragen. Ganz einfach, weil ich sie nicht gewohnt bin.

Ich weiß, dass noch weitere Coming-outs folgen werden. Manche werden einfacher, andere schwieriger. Aber hat man erstmal diese große Hürde namens irrationale Angst überwunden, dann wird es sofort einfacher. Es ist raus, es gibt kein zurück, die Last fällt von deinen Schultern, sämtliche Knoten lösen sich, du bist wieder ein Stück freier. Und jedes Mal bist du auf dich selbst stolz, weil du zu dir selbst gestanden hast.

Ich wünsche allen - die noch unsicher sind, die Angst haben, die meinen, sie könnten diese Schritte niemals gehen, die eine große Leere in sich spüren - dass ihr das Licht in euch findet, es wahrnehmt, dessen Schönheit und Einzigartigkeit erkennt und den Mut habt, es die Welt sehen zu lassen!

Ich bin gerade so überwältigt von all meinen Erlebnissen, Gefühlen und geschafften Schritten, dass ich dieses Glück mit euch teilen will!
Ihr alle habt Glück verdient und seid es Wert glücklich sein zu dürfen! smiling smiley
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