Hallo ihr beiden,
darf ich einen weiteren Aspekt in euren Gedankenaustausch einwerfen: Bitte nicht zu schnell meinen, eine Entscheidung treffen zu müssen, die plötzlich ein bisheriges Leben auf den Kopf stellt. Denn auch euer bisheriges Leben ist ein Teil von euch und ihr sollt es auch immer lieben. Man kann es ebensowenig verdrängen, wie die Gefühle und Veranlagung, die zu einem vollständigen Ich gehören.
Unsicher85, du tauscht dich mit deiner Frau über deine Gefühle und Schritte aus. Das ist bereichernd und schmerzlich zugleich. So habe ich es nun seit 39 Jahren erlebt und praktiziert.
Als ich meine Frau kennenlernte, war ich gerade mitten drinnen, meine Veranlagung, mein verstecktes Verlangen kennenzulernen. Das war 1983 in München. Als katholisches Landei kannte ich bis dahin nur die ländliche Moral und kirchliche Lehre jener Zeit. In München entdeckte ich eine neue Welt und dass ich nicht der einzige auf der Welt mit solchen Gefühlen war. Da trat auch meine jetzige Frau in mein Leben und sie war einfach der Mensch, der mich von seiner Art sehr schnell überzeugte, dass dies genau der Mensch sei, den ich suchte, mit dem allein ich mir ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Etwa zwei Wochen, nachdem wir uns kennen- und liebengelernt hatten, habe ich ihr erzählt, dass ich auch sexuelle Empfindungen zu Männern und diese gerade in München bei einem schwulen Masseur auch ausgelebt hätte. Nun, sie war damals gerade 19 und ein katholisches Landei, wie ich. Die Tragweite meines "Geständnisses" konnte sie sicher nicht ganz erfassen.
Ich hatte dann erst mal nur Gedanken für sie und die begonnene Männer-Entdeckungstour abgebrochen. ein gutes halbes Jahr später haben wir geheiratet, zumal auch sie ihre "Liebe des aber auch mit dem Hinweis, dass ich ihr in Bezug auf meine Bi-Neigung keine Garantie auf ein "treues" Eheleben geben könne. Wir wollten aber stets offen gegeneinander damit umgehen. Wie sie heute bestätigt, hat sie natürlich wenig Risiken gesehen und war zuversichtlich, dass das schon wieder vergehe oder zumindest nicht zu ausgeprägt sei.
Naja, da wir anfangs beruflich bedingt eine Wochenendehe führten und ich dann kurze Zeit nach unserer standesamtlichen Trauung im Februar ein Wochenende getrennt verbringen mussten, war ich eben dieses WE alleine unterwegs. In der benachbarten Stadt war die brasilianische Karneval-Show-Truppe "Carnival do Brazil" zu Gast und wie es der Zufall so wollte, traf ich in einer Bar einen der Tänzer davon, er setzte sich neben mich, und nach einer sehr angeregten Unterhaltung lud er mich zu sich ins Hotel ein, wo ich den Reizen dieses attraktiven, muskulösen Mann recht schnell erlegen war. Das Erlebte brachte zunächst mich völlig durcheinander und dann zunächst auch uns beide, als ich meiner Frau davon berichtet hatte. Wir gingen bald wieder zur "normalen Tagesordnung" über, aber die Postkarten, die der Tänzer mir dann von allen Stationen der Welt schickte, ließen dieses Ereignis nicht vergessen. Es vergingen einige Jahre, zwar mit männererotischen Phantasien, aber ohne tatsächlichen Ausflug in die Männerwelt. Aber wir unterhielten uns gelegentlich schon über meine Bi-Neigung. Unser Sexualleben litt aber nicht darunter. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen wurde das Thema Männerbeziehungen ja auch in den Medien offener behandelt, es gab entsprechende Kontaktanzeigen und als das Internet aufkam, waren ja alle Dämme gebrochen. So lernte ich im Jahr 2000 über das Internet im Chat einen jüngeren Mann aus Südbayern kennen, der eine langjährige Beziehung mit einer Freundin beendet hatte und gerade auf der Suche nach seiner Idendität war. Nach einer längeren Zeit des Chats, besuchte ich ihn nach Absprache mit meiner Frau. Wir verstanden uns prächtig und mit der Zeit schlitterte ich in eine totale "Verknalltheit", die ich selbst nicht realisierte, aber meine Frau. Das war dann der Punkt, wo unsere bis dahin recht harmonische Ehe, inzwischen hatten wir vier Kinder, auf eine große Belastungsprobe gestellt wurde. Diese Situation hat sich auch als ein gewisses "Trauma" bei meiner Frau eingebrannt. Wir haben wieder den Weg zueinader gefunden, weil wir beide an unserer Liebe und Beziehung, nicht allein vernunftmäßig, sondern gefühlsorientiert, festhalten wollten.
Die Offenheit im Umgang mit meiner Bi-Neigung war meiner Frau aber nicht mehr möglich. Es belastete sie zu sehr und ich konnte und kann es verstehen. Ich lebte auch immer in dem Zwispalt, meine Frau nicht verletzen zu wollen, meine Persönlichkeit aber auch nicht "verstümmeln" zu wollen. Es zeigte sich immer deutlicher, dass ich entweder Sexualität ganz oder aber gar nicht leben konnte. Dann vereinbarten wir, dass ich meine Sexualität leben sollte, ohne, dass wir weiterhin das auch in unseren Gesprächen thematisierten. Das war keine gute Idee. Ich suchte immer mehr Kontakt in die Szene, sprich die blauen Seiten von gr, und hatte zunehmend sexuelle Kontakte, die aber keine tatsächliche Befriedung, sondern eher noch eine weitere Anstachelung des Triebs erreichten. Ich entfernte mich gefühlsmäßig zunehmend von meiner Frau. Wir funktionierten noch ganz gut als Ehepaar, aber fühlten nicht mehr so füreinander. Es kam zu einigen Ausprachen miteinander und ich wollte auch von mir aus einiges ändern, da ich empfand, zwar meine sexuelle Bandbreite abzudecken, aber ein Teil meiner Persönlichkeit auf der Strecke blieb. Nun gut, es kamen ein paar herausfordernde Jahre, aber letztendlich wollten wir uns beide gegenseitig nicht aufgeben. Das macht unsere Ehe und uns als Paar besonders aus, wobei, das muss ich gestehen, meine Frau daran den größeren Anteil hat.
Dann habe ich vor 2 1/2 Jahren durch Zufall über gr einen jungen verheirateten Mann kennengelernt. Wir verstehen uns sehr gut, wir suchten beide keine innige Beziehung, aber wir haben eine sehr gute Freundschaft und ab und zu tauchen wir in unsere kleine Welt ab, in der wir mit viel Zeit und ohne viel Worte unsere gegenseitige sexuelle Erfüllung genießen. Ich bin nun im Grunde genommen wieder bei meinem brasilianischen Tänzer angekommen. Ich habe eine innere Ruhe wiedergefunden und damit auch wieder einen festen Draht zu meiner Frau. So manches entstandene sexuelle Problem in unserer ehelichen Beziehung hat sich gelöst, denn ein aufgebauter psychischer Druck ist weg.
Ich weiß, dass dieser wunderbare Zustand nicht auf Dauer Bestand haben wird, zumal mein junger Freund jetzt gerade mal 30 geworden ist. Ich weiß aber auch, dass es zu meiner Frau keine Alternative gab und geben wird, denn wir sind vom Menschlichen her einfach füreinander geschaffen. Wir werden das, was auf uns zukommen wird, hoffentlich in der gleichen Weise meistern, wie bisher, auch mal wieder mit "zerrissenen Hosen". Aber wenn eine tragfähige Liebe vorhanden ist, wenn beide diese empfinden und halten wollen, gibt es mehr als eine Entscheidung zwischen links oder rechts.
Ich wünsche euch diese Liebe mit eurer Frau, ich wünsche euch diese weiteren Wahlmöglichkeiten und dass ihr nichts aus eurer Vergangenheit, kein Teil eures Lebens aufgeben oder gar zerstören müsst.
vG
Tom