Guten Abend,
ich habe dieses Forum vor einigen Wochen entdeckt und immer wieder gespannt verfolgt, was sich hier tut. Die Unterstützung, die ihr Euch hier gegenseitig gebt, ist herzerwärmend.
Ich bin 32 und habe mich vor wenigen Wochen als bisexuell geoutet. Zumindest denke ich, dass ich bisexuell bin. Ich bin komplett unerfahren mit Männern und habe bislang ausschließlich in heterosexuellen Beziehungen mit Frauen gelebt.
Dass ich auf beide biologischen Geschlechter stehe, habe ich schon als Kind geahnt. Als ich herausgefunden habe, an welchem Wochentag unser Nachbar seine Sex-Zeitschriften in der Papiertonne entsorgt, bin ich natürlich dorthin geschlichen um diese vor der Müllabfuhr zu retten. Die Seiten mit nackten Herren haben mich damals schon gleichermaßen, wenn nicht mehr fasziniert als die barbusigen Damen.
Als ich in meiner Jugend meinen Körper entdeckt habe, kreisten meine Fantasien ebenfalls immer um Frauen UND Männer. Dennoch war es ja nun einmal "normal", dass man sich gefälligst an Frauen zu orientieren habe. Katholischer Prägung und Erziehung sei Dank...
Nichtsdestotrotz habe ich mich von meiner Jugend an ausschließlich in Frauen verliebt, wurde jedoch oft zurückgewiesen, so dass ich meinen erste Freundin erst mit 18 Jahren hatte. Bis heute war ich in fünf ernsthaften Partnerschaften, alle meine Frauen habe ich aufrichtig geliebt. Auch der Sex war meist erfüllend, wobei Sex für mich nie ein isoliert erstrebenswertes Ziel im Sinne von One-Night-Stands war und auch bis heute nicht ist. Für mich war Sex immer nur dann wirklich erfüllend, wenn ich zu der Frau eine tiefe emotionale Bindung hatte.
Letztendlich habe ich - bewusst oder unbewusst - bis in meine frühen Zwanziger meine "andere Seite" verdrängt bzw. ignoriert; bin auch sehr gut damit gefahren. Dann hatte ich allerdings 2013 eine Partnerin, die oftmals Sätze hat fallen lassen wie "Das schlimmste, was ein Mann seiner Frau antun kann, ist ihr zu eröffnen, dass er auf Männer steht! Du darfst NIEMALS schwul werden!". Und das war es, was mir ins Gedächtnis gerufen hat: Hey! Da ist übrigens noch etwas, womit Du dich nie auseinandergesetzt hast. Das schlummert da noch. Du kannst es allerdings niemals öffentlich machen, wenn Du die Frau heiraten willst! Du bist ein Mogelpaket!
Und das hat mich in ein Loch gestoßen, aus dem ich bis heute nicht richtig herausgekommen bin. Ich verfiel in eine schwere Depression, habe mein Leben im Anschluss nur mit Antidepressiva, Angstlösern und Schlaftabletten auf die Reihe bekommen. Die Beziehung hat das allerdings so schwer belastet, dass sie diese Phase nicht überlebt hat. Die damalige Freundin hat nach wenigen Monaten des heulenden Elends das Weite gesucht. Depression damit noch ungleich verschlimmert...
In den drei folgenden Jahren als Single hatte ich dennoch nicht den Mumm, mich auszuprobieren und auf Männer zuzugehen. Immer wieder mit dem Gedanken gespielt, aber doch immer wieder auf gefühlslose ONS mit Frauen zurückgegriffen, die keinen Spaß gemacht haben.
Als ich 2017 meine (bis vor kurzem, jetzt Ex-)Freundin kennenlernte, war ich absolut schockverliebt und habe sie auch sexuell sehr begehrt. Wir kamen zusammen, ich habe mein Leben nach kurzer Fernbeziehnung absolut auf den Kopf gestellt und bin für sie in eine weit entfernte Stadt gezogen. Wir waren unglaublich glücklich miteinander, haben uns abgöttisch geliebt. Und dann kam März 2020. Alle saßen zu Hause, hockten aufeinander - und es herrschte die große Perspektivlosigkeit.
Bei all der Misere und Stille hatte ich nun wieder Zeit, über mein "Dilemma" nachzudenken und es wurde irgendwann so schlimm, dass ich nur noch inaktiv auf der Couch hing, alles nur negativ sah, keine Freunde mehr traf, nichts mehr zum Haushalt beitragen konnte und mich nur noch selbst hassen konnte. "Du belügst Dich! Du belügst deine Freundin und alle anderen Menschen um Dich herum! Du bist eine einzige Mogelpackung, wie soll man Dich überhaupt lieben können!?" Oft habe ich überlegt, die Beziehung zu beenden, habe aber immer gehofft, wir könnten wieder so glücklich werden, wie wir es einmal waren - wenn wir denn nur Corona aussäßen...
Aufgrund meines zurückgezogenen Verhaltens und der Tatsache, dass ich seit Jahren mit der Freundin in meine Heimat ziehen wollte, sie aber nicht aus ihrer Stadt weg, ist die Beziehung vor wenigen Wochen nun vor die Hunde gegangen... leider.
Im Trennungsgespräch habe ich mit dem Ziel, mit der Erklärung für meine andauernde Miesepetrigkeit die Beziehung noch zu kitten, die Karten auf den Tisch gelegt und gesagt, dass ich seit meiner Jugend Männer und Frauen mag. Mir war wichtig, dass sie nicht den Eindruck bekam, sie hätte mich "schwul gemacht". Es war aber leider zu spät. Wir drifteten seit langer Zeit in völlig unterschiedliche Richtungen.
So schmerzlich die Trennung zunächst war - aber am selben Abend, als ich es ausgesprochen hatte, hatte ich zum ersten mal seit vielen Jahren den Eindruck, dass ich wieder atmen kann. Es war draußen. Ich war befreit. Und ich könnte mich ohrfeigen dafür, dass ich das all die Jahre im verborgenen mit mir herumgetragen habe. Aber der Satz meiner damaligen Partnerin hatte sich so eingebrannt, es schien unmöglich
Am Tag nach der Trennung habe ich beschlossen, mein Leben grundsätzlich zu ändern und mir endlich selbst einzugestehen, dass es diese zweite Seite an mir gibt und sie zu akzeptieren. Ich habe es meinen Eltern und weiteren Familienmitgliedern eröffnet, meine Freunde ins Bild gesetzt und was soll ich sagen... die Resonanz war zu 100% positiv und voller Unterstützung. Die jahrelange Selbstgeißelung hätte nicht sein müssen.
Nun gilt es nur noch herauszufinden, was ich wirklich möchte, wo es mich wirklich hinzieht. Ich weiß es ehrlich nicht. Ich merke, es zieht mich körperlich zu Männern hin, ich kann mir jedoch 0,0 vorstellen, einen Mann zu lieben oder eine tiefe emotionale Verbindung zu einem Mann einzugehen, geschweige denn mein Leben mit einem Mann zu verbringen. Das klappt nur mit Frauen. Und mit Frauen klappt, wie beschrieben, auch ein erfülltes Sexleben, wenn die Konstellation passt. Ich bin verwirrt wie ein Teenager und doch doppelt so alt.
Bin ich bi? War ich doch schon all die Jahre schwul? Bin ich heterosexuell und habe nur die Idee/Fantasie von gleichgeschlechtlichem Sex im Kopf? Fragen über Fragen...
Nächste Woche ist CSD und ich habe fest vor, dorthin zu gehen. Zumindest jetzt. Ich hoffe, ich habe den Mut auch nächste Woche noch.
Das neue Kapitel ist jedenfalls aufgeschlagen, es liegen spannende Zeiten vor mir und ich versuche aktiv, das Leben positiv zu sehen. Ich habe mich so lange selbst abgelehnt und gehasst, dass ich vergessen habe, wie man das Leben genießt. Das muss nun ein Ende haben.
"Proud" zu sein wird noch dauern. Es wird ein Prozess werden. Aber der erste Schritt ist getan. Und ich bin "proud", diesen endlich, endlich gemacht zu haben.
Vielen Dank fürs Lesen. Es mir mal herunterzuschreiben hat etwas kathartisches... :-)
LG
wechselstrom