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Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...

geschrieben von wechselstrom 
Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
09. Juli 2022 20:06
Guten Abend,

ich habe dieses Forum vor einigen Wochen entdeckt und immer wieder gespannt verfolgt, was sich hier tut. Die Unterstützung, die ihr Euch hier gegenseitig gebt, ist herzerwärmend.

Ich bin 32 und habe mich vor wenigen Wochen als bisexuell geoutet. Zumindest denke ich, dass ich bisexuell bin. Ich bin komplett unerfahren mit Männern und habe bislang ausschließlich in heterosexuellen Beziehungen mit Frauen gelebt.

Dass ich auf beide biologischen Geschlechter stehe, habe ich schon als Kind geahnt. Als ich herausgefunden habe, an welchem Wochentag unser Nachbar seine Sex-Zeitschriften in der Papiertonne entsorgt, bin ich natürlich dorthin geschlichen um diese vor der Müllabfuhr zu retten. Die Seiten mit nackten Herren haben mich damals schon gleichermaßen, wenn nicht mehr fasziniert als die barbusigen Damen.
Als ich in meiner Jugend meinen Körper entdeckt habe, kreisten meine Fantasien ebenfalls immer um Frauen UND Männer. Dennoch war es ja nun einmal "normal", dass man sich gefälligst an Frauen zu orientieren habe. Katholischer Prägung und Erziehung sei Dank...
Nichtsdestotrotz habe ich mich von meiner Jugend an ausschließlich in Frauen verliebt, wurde jedoch oft zurückgewiesen, so dass ich meinen erste Freundin erst mit 18 Jahren hatte. Bis heute war ich in fünf ernsthaften Partnerschaften, alle meine Frauen habe ich aufrichtig geliebt. Auch der Sex war meist erfüllend, wobei Sex für mich nie ein isoliert erstrebenswertes Ziel im Sinne von One-Night-Stands war und auch bis heute nicht ist. Für mich war Sex immer nur dann wirklich erfüllend, wenn ich zu der Frau eine tiefe emotionale Bindung hatte.

Letztendlich habe ich - bewusst oder unbewusst - bis in meine frühen Zwanziger meine "andere Seite" verdrängt bzw. ignoriert; bin auch sehr gut damit gefahren. Dann hatte ich allerdings 2013 eine Partnerin, die oftmals Sätze hat fallen lassen wie "Das schlimmste, was ein Mann seiner Frau antun kann, ist ihr zu eröffnen, dass er auf Männer steht! Du darfst NIEMALS schwul werden!". Und das war es, was mir ins Gedächtnis gerufen hat: Hey! Da ist übrigens noch etwas, womit Du dich nie auseinandergesetzt hast. Das schlummert da noch. Du kannst es allerdings niemals öffentlich machen, wenn Du die Frau heiraten willst! Du bist ein Mogelpaket!
Und das hat mich in ein Loch gestoßen, aus dem ich bis heute nicht richtig herausgekommen bin. Ich verfiel in eine schwere Depression, habe mein Leben im Anschluss nur mit Antidepressiva, Angstlösern und Schlaftabletten auf die Reihe bekommen. Die Beziehung hat das allerdings so schwer belastet, dass sie diese Phase nicht überlebt hat. Die damalige Freundin hat nach wenigen Monaten des heulenden Elends das Weite gesucht. Depression damit noch ungleich verschlimmert...
In den drei folgenden Jahren als Single hatte ich dennoch nicht den Mumm, mich auszuprobieren und auf Männer zuzugehen. Immer wieder mit dem Gedanken gespielt, aber doch immer wieder auf gefühlslose ONS mit Frauen zurückgegriffen, die keinen Spaß gemacht haben.

Als ich 2017 meine (bis vor kurzem, jetzt Ex-)Freundin kennenlernte, war ich absolut schockverliebt und habe sie auch sexuell sehr begehrt. Wir kamen zusammen, ich habe mein Leben nach kurzer Fernbeziehnung absolut auf den Kopf gestellt und bin für sie in eine weit entfernte Stadt gezogen. Wir waren unglaublich glücklich miteinander, haben uns abgöttisch geliebt. Und dann kam März 2020. Alle saßen zu Hause, hockten aufeinander - und es herrschte die große Perspektivlosigkeit.
Bei all der Misere und Stille hatte ich nun wieder Zeit, über mein "Dilemma" nachzudenken und es wurde irgendwann so schlimm, dass ich nur noch inaktiv auf der Couch hing, alles nur negativ sah, keine Freunde mehr traf, nichts mehr zum Haushalt beitragen konnte und mich nur noch selbst hassen konnte. "Du belügst Dich! Du belügst deine Freundin und alle anderen Menschen um Dich herum! Du bist eine einzige Mogelpackung, wie soll man Dich überhaupt lieben können!?" Oft habe ich überlegt, die Beziehung zu beenden, habe aber immer gehofft, wir könnten wieder so glücklich werden, wie wir es einmal waren - wenn wir denn nur Corona aussäßen...
Aufgrund meines zurückgezogenen Verhaltens und der Tatsache, dass ich seit Jahren mit der Freundin in meine Heimat ziehen wollte, sie aber nicht aus ihrer Stadt weg, ist die Beziehung vor wenigen Wochen nun vor die Hunde gegangen... leider.

Im Trennungsgespräch habe ich mit dem Ziel, mit der Erklärung für meine andauernde Miesepetrigkeit die Beziehung noch zu kitten, die Karten auf den Tisch gelegt und gesagt, dass ich seit meiner Jugend Männer und Frauen mag. Mir war wichtig, dass sie nicht den Eindruck bekam, sie hätte mich "schwul gemacht". Es war aber leider zu spät. Wir drifteten seit langer Zeit in völlig unterschiedliche Richtungen.

So schmerzlich die Trennung zunächst war - aber am selben Abend, als ich es ausgesprochen hatte, hatte ich zum ersten mal seit vielen Jahren den Eindruck, dass ich wieder atmen kann. Es war draußen. Ich war befreit. Und ich könnte mich ohrfeigen dafür, dass ich das all die Jahre im verborgenen mit mir herumgetragen habe. Aber der Satz meiner damaligen Partnerin hatte sich so eingebrannt, es schien unmöglich
Am Tag nach der Trennung habe ich beschlossen, mein Leben grundsätzlich zu ändern und mir endlich selbst einzugestehen, dass es diese zweite Seite an mir gibt und sie zu akzeptieren. Ich habe es meinen Eltern und weiteren Familienmitgliedern eröffnet, meine Freunde ins Bild gesetzt und was soll ich sagen... die Resonanz war zu 100% positiv und voller Unterstützung. Die jahrelange Selbstgeißelung hätte nicht sein müssen.

Nun gilt es nur noch herauszufinden, was ich wirklich möchte, wo es mich wirklich hinzieht. Ich weiß es ehrlich nicht. Ich merke, es zieht mich körperlich zu Männern hin, ich kann mir jedoch 0,0 vorstellen, einen Mann zu lieben oder eine tiefe emotionale Verbindung zu einem Mann einzugehen, geschweige denn mein Leben mit einem Mann zu verbringen. Das klappt nur mit Frauen. Und mit Frauen klappt, wie beschrieben, auch ein erfülltes Sexleben, wenn die Konstellation passt. Ich bin verwirrt wie ein Teenager und doch doppelt so alt.
Bin ich bi? War ich doch schon all die Jahre schwul? Bin ich heterosexuell und habe nur die Idee/Fantasie von gleichgeschlechtlichem Sex im Kopf? Fragen über Fragen...
Nächste Woche ist CSD und ich habe fest vor, dorthin zu gehen. Zumindest jetzt. Ich hoffe, ich habe den Mut auch nächste Woche noch.

Das neue Kapitel ist jedenfalls aufgeschlagen, es liegen spannende Zeiten vor mir und ich versuche aktiv, das Leben positiv zu sehen. Ich habe mich so lange selbst abgelehnt und gehasst, dass ich vergessen habe, wie man das Leben genießt. Das muss nun ein Ende haben.
"Proud" zu sein wird noch dauern. Es wird ein Prozess werden. Aber der erste Schritt ist getan. Und ich bin "proud", diesen endlich, endlich gemacht zu haben.

Vielen Dank fürs Lesen. Es mir mal herunterzuschreiben hat etwas kathartisches... :-)

LG
wechselstrom
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
10. Juli 2022 11:41
Hallo wechselstrom,

was, wie ich finde ein sehr treffender Nickname ist, der Dich zwischen den Geschlechtern hin und her zieht. Zumal ich das sehr gut nachvollziehen kann, weil ich als massiv weiblich geprägter Mann immer das Gefühl hatte im „falschen Körper“ zu sein, obwohl ich meinen nie verändern wollte. Hier war ich immer zwischen meiner weiblichen und meiner männlichen Seite hin und her gezogen bzw. auch geworfen.

Aus meinen Beobachtungen heraus habe ich das Gefühl, dass wir Menschen grundsätzlich bisexuell veranlagt sind. In Gefängnissen und beim Militär bleibt hier auch keine andere Wahl, als seine sexuellen Bedürfnisse mit dem gleichen Geschlecht zu leben.

„Dennoch war es ja nun einmal "normal", dass man sich gefälligst an Frauen zu orientieren habe. Katholischer Prägung und Erziehung sei Dank…“

Auch wenn Du um einiges jünger bist als ich, so ist es in dieser Gesellschaft noch immer die NORM Hetero zu sein, nach der sich gefälligst JEDER ZU RICHTEN hat. Wir wurden durch sie geprägt und etwas anderes kam nie in Frage. Hinzu kommt, dass bis ins Jahr 1994 hinein Homosexualität strafbar war.

„Für mich war Sex immer nur dann wirklich erfüllend, wenn ich zu der Frau eine tiefe emotionale Bindung hatte.“

Hm, so ähnlich sollte es auch sein. Da für mich Emotionen vom Bauch her kommen, tendiere ich viel lieber zu Gefühlen, die vom Herzen kommen. Für mich geht Sex mit einem Menschen nur dann, wenn ich etwas für ihn empfinde, Gefühle für ihn habe und eine Herz-Herz-Verbindung da ist.

„"Das schlimmste, was ein Mann seiner Frau antun kann, ist ihr zu eröffnen, dass er auf Männer steht!“

So ähnlich ist es auch bei den eigenen Müttern. Ich wusste, dass meine Mutter gegen Homosexuelle eingestellt ist und das als widernatürlich empfindet. Deswegen hat es auch lange gedauert, bis ich dann in einem eher aggressiven Ton damit herausgeplatzt bin und sie tief schockiert habe. Tatsache ist jedoch auch, dass man als Sohn in diesem Bewusstsein, sich wohl eher versagt, diese Seite an sich zu leben. Oft genug mit sehr negativen Konsequenzen für sich selbst und häufig eben auch mit Depressionen.

„Du bist ein Mogelpaket!“

Aus meiner eigenen Erfahrung heraus, kann ich Dir nur empfehlen, damit Schluss zu machen. Du bist richtig und gut so, wie Du bist. Wenn Du damit anfängst zu Dir zu stehen, so wie Du bist, dann bist Du authentisch und niemand kann Dir den Vorwurf machen ein „Mogelpaket“ zu sein. Das ist nur dann so, wenn Du anderen etwas vorspielst (MASKE - PERSONA), was im Widerspruch zu Deinem Wesen steht.

„In den drei folgenden Jahren als Single hatte ich dennoch nicht den Mumm, mich auszuprobieren und auf Männer zuzugehen. Immer wieder mit dem Gedanken gespielt, aber doch immer wieder auf gefühlslose ONS mit Frauen zurückgegriffen, die keinen Spaß gemacht haben.“

Auch das fordert von Dir, zu Dir selbst zu stehen und dann den Mut zu haben es einfach zu versuchen. Was kann Dir dabei passieren?

„Und dann kam März 2020. Alle saßen zu Hause, hockten aufeinander - und es herrschte die große Perspektivlosigkeit.“

Ja, das war die Zeit, die viele Menschen dringend gebraucht haben. Sie wurden nun durch die ARRESTIERUNG auf sich selbst zurück geworfen und mussten sich mit ihren innersten Themen auseinandersetzen, weil es keine Möglichkeit mehr zur Flucht vor sich selbst gab.

„- wenn wir denn nur Corona aussäßen…“

Diesem Irrtum unterliegt auch jetzt noch die Masse der Menschen. Die Zeit vor Corona ist ein für allem Mal aus und vorbei. Die kommt nie wieder und das ist gut so. Es ist jetzt die Zeit sich auf eine neue Zeit und eine neue Erde zu freuen und diese mitzugestalten.

„Und ich könnte mich ohrfeigen dafür, dass ich das all die Jahre im verborgenen mit mir herumgetragen habe.“

Willst Du wirklich so lieblos mit Dir selbst umgehen?
Hast Du das wirklich verdient?

Aus meiner Sicht hat es doch wohl gereicht, dass wir als Kinder von unseren Eltern geschlagen wurden und manchmal auch von anderen. In früheren Zeiten wurden die Kinder auch in den Kindergärten und Schulen geprügelt. Wie gehen wir Menschen mit uns um? Ist das liebevoll?

„Ich habe es meinen Eltern und weiteren Familienmitgliedern eröffnet, meine Freunde ins Bild gesetzt und was soll ich sagen... die Resonanz war zu 100% positiv und voller Unterstützung.“

Leider stellt man sich sein coming-out viel schlimmer vor als es dann tatsächlich ist. Heute ist in aller Regel die Akzeptanz viel grösser als früher. Ausserdem habe ich den Eindruck, dass man sich selbst schützt, wenn man zu sich steht und es offen sagt und damit die Gefahr von homophoben Übergriffen verringert.

„Ich merke, es zieht mich körperlich zu Männern hin, ich kann mir jedoch 0,0 vorstellen, einen Mann zu lieben oder eine tiefe emotionale Verbindung zu einem Mann einzugehen, geschweige denn mein Leben mit einem Mann zu verbringen.“

Warum blockierst Du Dich jetzt selber?

Jetzt bist Du so weit gegangen, Dir selbst einzugestehen, dass Du dich zu Männern hingezogen fühlst. Jetzt solltest Du auch den nächsten Schritt gehen und erst einmal ein Mann kennen lernen, der Dir gefällt und den Du anziehend empfindest.

Ein Tausendfüssler macht sich auch keinen Kopf darüber, mit welchem Fuss er zuerst voranschreitet, sonst würde er sich mit den vielen Füssen total verheddern.

Lass das Kopfkino beiseite und höre auf Deinen Bauch.

Es gibt viele Wege eine Beziehung zu leben und die traditionelle ist nur eine davon. Für mich käme ein gemeinsames Bett nie in Frage, da meine Aura sich im Schlaf regenerieren muss OHNE dass ich von einer anderen Aura beeinflusst werde und damit bin ich keineswegs der Einzige, dem das so geht. Es gibt auch Ehen zwischen Mann und Frau, die dennoch unterschiedliche Wohnungen haben. Es ist alles möglich, wenn wir das wollen.

„Nächste Woche ist CSD und ich habe fest vor, dorthin zu gehen.“

Ist das wirklich eine gute Idee?

Es kann jeder zum CSD stehen wir er/sie möchte, doch habe ich eher den Eindruck, dass der CSD mehr schadet als nutzt. Wenn es eine Minderheit in der Gesellschaft nötig hat, auf eine solch fragwürdige Weise auf sich aufmerksam zu machen, dann geht etwas fürchterlich schief. Die ganze Darstellung weicht für mich auch sehr von der Wirklichkeit ab und hat mehr von einer Faschingsveranstaltung.

Das wirklich Leben von Homosexuellen und solchen Paaren ähnelt sehr dem von Heteros und das ist gut so.
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
10. Juli 2022 12:42
Das neue Kapitel ist jedenfalls aufgeschlagen, es liegen spannende Zeiten vor mir und ich versuche aktiv, das Leben positiv zu sehen. Ich habe mich so lange selbst abgelehnt und gehasst, dass ich vergessen habe, wie man das Leben genießt. Das muss nun ein Ende haben.
"Proud" zu sein wird noch dauern. Es wird ein Prozess werden. Aber der erste Schritt ist getan. Und ich bin "proud", diesen endlich, endlich gemacht zu haben.


Hallo Wechlselstrom,
auch ich finde deinen Nickmnamen passend. Wobei ich ihn etwas anderes interpretiere.
Du hast nun 100 % Auswahl, Menschen an dich heranzulassen, die dir wirklich weiterhelfen.

Mit dem Besuch des CSD finde ich wiederum eine guten Idee. MIr hat es damals auf jeden Fall gut getan. Endlich das Gefühl zu haben, unter Gleichen zu sein. Obwohl, das Schrille war es nicht, nein nur das Gefühl um mich herum sind eben alle Menschen anders anders. Mein innerestes Gefühl halt.
Und so habe ich, nachdem meine Mitstreiter die mit zum CSD gekommen waren, nach Hause gegangen sind, erstmal auf den unterschriedlichsten Bühnen getanz. Meinen Start in mein neues Leben "gefeirt".

Ich war damals 47 und meine Mitstreiter Mitte 30 bis über 60 - es war egal - es tat so gut.

Zu welchem CSD wirst Du gehen. Will vielleicht jemand mit? Möchtest Du jemanden dabei haben?

GLG und alles Gute auf deinen weiteren Weg.

Maks
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
10. Juli 2022 18:02
Lieber Maks,

zum Thema CSD möchte ich gerne ein paar Worte schreiben, doch in einem anderen Beitrag, da dies hier unpassend ist. Deshalb habe ich es im Deinem Beitrag „CSD Köln - 1.7. - 3.7.2022“ ausgeführt.

LG

Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand.
Die Veränderung beginnt bei mir selbst.
Liebe ist meine Rebellion.
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
10. Juli 2022 19:02
Hallo EinsamerWolf, hallo Maks,

danke für Euren Zuspruch und die netten Worte.

@EinsamerWolf:

Quote

Willst Du wirklich so lieblos mit Dir selbst umgehen?
Hast Du das wirklich verdient?

Aus meiner Sicht hat es doch wohl gereicht, dass wir als Kinder von unseren Eltern geschlagen wurden und manchmal auch von anderen. In früheren Zeiten wurden die Kinder auch in den Kindergärten und Schulen geprügelt. Wie gehen wir Menschen mit uns um? Ist das liebevoll?

Bitte nicht zu wörtlich nehmen, eher als eine Art Redewendung. Ich gehe nicht mehr hart mit mir selbst ins Gericht. Im Gegenteil.- ich versuche mich selbst zu bestärken und morgens in den Spiegel zu gucken und die Person, die zurückstarrt zu akzeptieren und lieben zu lernen.

Quote

Warum blockierst Du Dich jetzt selber?

Jetzt bist Du so weit gegangen, Dir selbst einzugestehen, dass Du dich zu Männern hingezogen fühlst. Jetzt solltest Du auch den nächsten Schritt gehen und erst einmal ein Mann kennen lernen, der Dir gefällt und den Du anziehend empfindest.

Ein Tausendfüssler macht sich auch keinen Kopf darüber, mit welchem Fuss er zuerst voranschreitet, sonst würde er sich mit den vielen Füssen total verheddern.

Lass das Kopfkino beiseite und höre auf Deinen Bauch.

Das kam vielleicht falsch rüber. Ich möchte mich nicht blockieren, es ist eher eine ad-hoc-Situationsbeschreibung. Wenn ich aber eines über die Jahre gelernt habe, dann, dass ich es anhand von "Trockenübungen" nie herausfinden werde. Ich werde bald wieder in einer Großstadt wohnen, es wird ausreichende Kontaktmöglichkeiten geben, die ich definitiv wahrnehmen möchte. Ich erinnere mich an einen Studienfreund, der an den Donnerstagen immer von der vergangenen schwulen Clubnacht geschwärmt hat... Einfach mal machen. Es fällt mir nur (noch) nicht ganz leicht, die jahrelang antrainierte Hemmschwelle zu überwinden - step by step... :-)

Quote

Es kann jeder zum CSD stehen wir er/sie möchte, doch habe ich eher den Eindruck, dass der CSD mehr schadet als nutzt. Wenn es eine Minderheit in der Gesellschaft nötig hat, auf eine solch fragwürdige Weise auf sich aufmerksam zu machen, dann geht etwas fürchterlich schief. Die ganze Darstellung weicht für mich auch sehr von der Wirklichkeit ab und hat mehr von einer Faschingsveranstaltung.

Ich gebe Dir grundsätzlich recht. Auf mich wirkt diese "Welt" auch oftmals befremdlich und eher abschreckend als einladend. Ich sehe es aber als Möglichkeit mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen, vielleicht auch erst einmal als stiller Beobachter. Wenn es mir gefällt - schön! Falls es mir zu viel ist, bin ich schnell in der U-Bahn verschwunden.
Ich verspüre jetzt nicht plötzlich das Bedürfnis, fahnenschwenkend auf Paraden mitzumarschieren (kommt vielleicht noch, hehe. winking smiley )

Quote
Maks
Mit dem Besuch des CSD finde ich wiederum eine guten Idee. MIr hat es damals auf jeden Fall gut getan. Endlich das Gefühl zu haben, unter Gleichen zu sein. Obwohl, das Schrille war es nicht, nein nur das Gefühl um mich herum sind eben alle Menschen anders anders. Mein innerestes Gefühl halt.
Und so habe ich, nachdem meine Mitstreiter die mit zum CSD gekommen waren, nach Hause gegangen sind, erstmal auf den unterschriedlichsten Bühnen getanz. Meinen Start in mein neues Leben "gefeirt".

Ich war damals 47 und meine Mitstreiter Mitte 30 bis über 60 - es war egal - es tat so gut.

Zu welchem CSD wirst Du gehen. Will vielleicht jemand mit? Möchtest Du jemanden dabei haben?

Genau so nehme ich die Gelegenheit auch wahr (s.o.). Es wird der CSD in München sein, kommenden Samstag. Ich habe das Glück und konnte mich mit einigen Freunden dort verabreden. Trotzdem bin ich aber gerne offen dafür, Leuten aus dem Forum Hallo zu sagen. PM welcome. smiling smiley

LG
wechselstrom
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
25. Juli 2022 15:13
Hallo Wechselstrom,

mit Spannung habe ich deine Geschichte und die Beiträge von Maks und EinsamerWolf verfolgt.

Wie hat es dir nun beim CSD gefallen?

Meine Geschichte und meine Gefühle ähneln deinen: seit Jahren diese Unsicherheit wo ich hingehöre..... bi? schwul? oder doch hetero (wohl eher nicht)?
Nur sehe ich mich aktuell nicht in der Lage die nächsten Schritte (wie z.B. CSD etc....) zu gehen und würde mich daher sehr über einen Erfahrungsbericht freuen.

Grüße
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
25. Juli 2022 21:48
@Unsicher:

Hast Du Deine Geschichte schon mal hier notiert? Ich habe nur ein Posting von Dir von vor einem Jahr gefunden - wie sieht es denn bei Dir jetzt aus?

Viele Grüße

Flo
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
26. Juli 2022 18:35
Hallo Flo,

vielen Dank für deinen Beitrag.

Ich habe diesen zum Anlass genommen meine Geschichte aufzuschreiben.

Wie du vielleicht sehen wirst, deiner sehr ähnlich.

Viele Grüße
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
26. Juli 2022 21:21
Hallo Unsicher85,

ich habe Deine Geschichte eben in Deinem Thread gelesen. Sie ist abgesehen von Familie und Haus wirklich sehr ähnlich zu meiner. Hätte ich so weitergemacht wie all die Jahre zuvor, wäre ich aber sicher auch irgendwann unweigerlich in diese Situation geschlittert...

Ich wünsche Dir, dass Du einen guten Weg finden kannst, Dich selbst zu akzeptieren - was immer Dein wahres Selbst ist. Es wird sicher nicht leicht, aber mit einem gesunden Umfeld (Dein Bruder; super dass Du dich ihm anvertrauen konntest), Menschen, die Dich und Deine Situation verstehen (hier im Forum, ein anderer User berichtete kürzlich von einem Verein "Schwule Väter" zur Selbsthilfe) - und unter Umständen auch einer Psychotherapie wirst Du das hinbekommen. Ich selbst habe es erst mithilfe meiner Therapeutin vor etwa einem Jahr geschafft, das erste Mal laut auszusprechen, dass auch Männer anziehend auf mich wirken. Ich betrachte die Therapie wirklich als eine Art Kokon. Jetzt, da sie zu Ende geht, bin ich ein neuer Mensch und lasse das auch größtenteils zu.

Meine Pläne vom CSD sind leider kurzfristig geplatzt. Meine Begleitung hat abgesagt und alleine habe ich es nicht fertig gebracht, hinzugehen... Ich hatte zu viel Bammel, dass es mich total überwältigen könnte. Ich möchte das aber gerne bei einer sich bietenden Gelegenheit nachholen.

Ich habe mir stattdessen Tinder und Grindr heruntergeladen, einfach um Leute kennenzulernen. Ich sitze seit der Trennung von meiner Freundin alleine in einer mir immer noch fremden "Groß"-Stadt, in der es nicht wirklich eine Szene gibt. Um Kontakte zu knüpfen würde ich aber zum Einstieg nicht unbedingt Grindr empfehlen. Es überfordert mich maßlos, da es hier in erster Linie wirklich nur um das Eine geht. Deshalb nutze ich es aktuell nicht. Diese nicht zu toppende Oberflächlichkeit widerspricht jedem Baustein meines Charakters. Aber das ist Geschmackssache. ;-)
Tinder ist nun auch nicht unbedingt tiefschürfend, aber hier ist es immerhin ein kleines bisschen weniger Meat Market. Mittlerweile traue ich mich sogar, Männer zu matchen und lehne nicht aus Angst vor einem potenziell zustandekommenden Kontakt den User ab...

Vielleicht kannst Du ja auch auf diese Weise ein paar neue Leute kennenlernen, die Dir gut tun. Da Du die Privatsphäre angesprochen hast und die Angst davor, dass Dich jemand entdeckt: keine Sorge, Du kannst alles so gestalten, dass Dich niemand öffentlich enttarnt.

Falls Du quatschen möchtest, schreib gerne eine PN.

Alles Gute für Dich!
wechselstrom
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
27. Juli 2022 14:13
Hallo Wechselstrom,

vielen Dank für die guten Wünsche und deine Tipps. Bei der Psychotherapie war ich bereits. Ich konnte bereits in wenigen Sitzungen viel mitnehmen und über mich lernen.
Auch war ich bei einer Beratungsstelle für Schwule, die bei einem CO Hilfe anbietet. Das war auch recht hilfreich.

Schade zu hören, dass es mit dem CSD nicht geklappt hat. Aber da kommen ja noch welche...

Viele Grüße
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
02. Januar 2023 18:53
Hallo zusammen,

ein für mich extrem turbulentes Jahr hat am vergangenen Samstag seinen Abschluss gefunden. Neuer Beziehungsstatus (Single), neuer Wohnort, neuer Job, neue offen ausgelebte Sexualität. Ein halbes Jahr ist es nun her, dass ich mich entschieden habe, zu meiner zweiten Seite zu stehen und mich zu akzeptieren wie ich bin. Zeit, die letzten sechs Monate einmal Revue passieren zu lassen. Vielleicht ist es hilfreich für andere Mitleser, die noch zaudern und mit sich hadern.

Es war anfangs nicht leicht, mich zurecht zu finden in dieser neuen Welt. Immer einfach finde ich es auch jetzt noch nicht. Ungebrochen ist aber der Rückhalt von Familie und Freunden. Das Gerede aus meinem Umfeld der letzten fünf Jahre wurde mir zugetragen, lässt mich aber kalt. Ich habe dorthin kaum noch Verbindungen, und das Urteil von anderen muss ich nicht zu meinem Problem machen.

Es geht mir mit der neuen Situation sehr gut. Seit meiner "Befreiung" ist meine Perception gegenüber mir selbst und auch meiner Umwelt eine gänzlich andere. Ich sehe die Dinge wieder positiv und das Glas ist (meistens) halb voll anstatt halb leer. Das "Ich hasse alle Menschen", das letztlich nur die Projektion meines Selbsthasses war, gibt es nicht mehr.

Ich hatte in der Zwischenzeit ein paar Dates mit Männern und ein paar erste Erfahrungen gesammelt. Neben ein paar casual Dates treffe ich seit einigen Monaten immer wieder denselben, unglaublich tollen Mann.
Am Tag meines CO konnte ich mir noch nicht einmal vorstellen, einen Mann zu küssen. Mittlerweile ist es das normalste auf der Welt, dass mein Gegenüber um den Mund herum kratzt. Was mich am Anfang große Überwindung gekostet hat, ist nun wunderschön! smiling smiley
Dass ich mir keine Gefühle für einen Mann vorstellen kann, gehört ebenfalls der Vergangenheit an. Nach einiger Zeit mit diesem Mann empfinde ich tiefe Zuneigung für ihn. Von Liebe kann ich jetzt noch nicht sprechen, aber es könnte sein, dass es sich immer mehr in diese Richtung entwickeln wird.
Wir küssen uns in der Öffentlichkeit, wir laufen Händchen haltend durch die Stadt und es ist schön so - es ist einfach ganz normal! Genauso normal ist es, ihn zu Treffen mit meinen Freunden oder zum Silvesterabend bei meiner Schwester mitzubringen. Auch, wenn mich das im Vorfeld unglaublich nervös gemacht hat. Gänzlich weg sind die eigenen Schranken immer noch nicht. Welcher Mann wäre schon nervös, eine neue Freundin mitzubringen? Es ist immer noch ein Lernen.

Was ich allerdings bislang nicht hatte, ist der große AHA-Moment ("Das ist es! Das hat mir immer gefehlt!"winking smiley. Es macht Spaß mit Männern, aber es fiel mir nun nicht wie Schuppen von den Augen, dass ich all die Jahre schon schwul war. Ich denke, ich stehe doch irgendwie auf Männer und Frauen. Vielleicht date ich demnächst auch mal wieder eine Frau, wer weiß. Ich mag mir selbst kein Label geben, sondern einfach nach meiner Vorstellung leben und das tun, was sich gut anfühlt.

Aber eines weiß ich: auf Männer verzichten möchte ich auch in der Zukunft nicht mehr. winking smiley

LG
wechselstrom
Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
03. Januar 2023 07:27
Hallo wechselstrom,

das liest sich wirklich toll was du schreibst.
Mir geht dabei das Herz auf, weil du es tatsächlich geschafft hast deine Krise in eine echte Chance und damit in eine positive Veränderung zu verwandeln.

Viele Menschen verfallen nach der Erkenntnis, schwul, lesbisch oder bi zu sein in ein Zwischenloch, aus dem sie nicht mehr rauskommen.
Zur "alten Welt" gehören sie nicht mehr, mit der "neuen Welt" können sie nichts anfangen.
Da hängen sie nun, zwischen den Stühlen und eine Depression macht sich breit, weil der Wachstum fehlt.

Du bist hier ein leuchtendes Beispiel, wie man die Krise nutzen kann und auch in schweren Zeiten sich auf das Vorwärtsgehen und das positive fokussieren kann.
Ich hoffe, dass du mit deinem Bericht hier vielen Menschen, die vielleicht gerade feststecken, doch noch mal Mut machst, weiter zu gehen. smiling smiley

Zum Thema Aha-Moment:
Aus meiner Erfahrung haben nur wenige Leute einen echten Aha-Moment, wo es durch einen Trigger "*klick" macht. Bei mir war das so, bei den meisten ist es aber einfach ein langer Prozess, der sich entwickelt. Also warte nicht darauf sondern entwickle dich einfach weiter.

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es diese Kategorien schwul/lesbisch, bi und hetero nicht gibt. Sexualität ist ein Spektrum und wir liegen alle irgendwo zwischen 100% Hetero und 100% Homo. Ich bezeichne mich zwar als schwul und wenn ich durch die Fußgänger gehe, schaue ich zu 90% Männern hinterher, aber es gibt durchaus auch einige wenige Frauen, die ich attraktiv und faszinierend finde.

In dem Sinne. Vielen Dank für das Teilen deiner Erfahrung smiling smiley

Michael Kensy
Coming-out Coach
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Re: Ein neues Kapitel mit 32 Jahren...
04. Januar 2023 12:41
Hallo Wechselstrom,

vielen Dank, dass du uns an deinem persönlichen Rückblick teilhaben lässt. Liest sich wirklich gut.

Es ist schön zu lesen, dass du aus deinem "Zwischenloch" bereits raus bist und das Leben wieder positiver sehen kannst. Deine Erfahrungen klingen einfach schön. Das gibt mir tatsächlich Hoffnung und neue Motivation mein "Zwischenloch" (irgendwann) verlassen zu können.

Vielen Dank auch an dich, Michael. Deine Beiträge sind immer sehr hilfreich für mich.

Grüße
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