Nachdem wir uns im Chat kennengelernt haben, hat Maks mich gebeten, meine Geschichte aufzuschreiben und hier im Forum zu veröffentlichen. Dem komme ich gerne nach – auch in der Hoffnung, dadurch mehr Klarheit für mich selbst zu finden.
Anzeichen dafür, dass ich eventuell schwul sein könnte, gab es schon früh. Das fing in der Kindheit damit an, dass ich gerne mit Puppen gespielt habe, mich seit meiner Jugend immer besser mit den Mädels als mit den Jungs verstanden habe, mich null für die klassischen Jungs-Hobbys wie Fußball, Feuerwehr etc. interessiert habe und zu Hause (zum Graus meines Vaters) kochen und stricken gelernt habe. Das sind zwar alles Klischees aber aus heutiger Sicht passt es ins Bild.
Wegen meiner eher soften Art bin ich oft gefragt worden „Bist du schwul?“. Aber das durfte natürlich nicht sein und wurde von mir immer empört abgestritten. Ich hab alles dran gesetzt, diese Seite von mir zu verstecken. Wurde immer cooler, männlicher, unemotionaler. Bloß nicht schwul wirken.
Ist mir aber nur begrenzt gelungen. Mit 19 hat mich ein Kollege angebaggert weil er meinte ich sei schwul. Das wäre die Möglichkeit gewesen, eine erste Erfahrung mit meiner anderen Seite zu machen. Aber die Chance ließ ich ungenutzt, was ich im späteren Leben oft bereut habe. Der Mut hatte einfach gefehlt, die Angst aus der Norm zu fallen, die Familie zu enttäuschen.
Und da war auch der Wunsch nach einer Familie. So kam es, dass ich irgendwann meine Frau kennen lernte, mich verliebte. Wir haben geheiratet, bekamen zwei Kinder und alles war gut.
Wenn da nicht immer wieder diese Gedanken gewesen wären: „Was wäre wenn?“. „Was wäre passiert, wenn ich die Chance damals wahrgenommen hätte?“, „Warum habe ich öfters Gedanken an Männer?“, „Warum träume ich ab und zu davon?“, „Warum schaue ich mir Schwulen-Pornos an?“. Apropos: Beim Porno schauen hab ich immer darauf geachtet, mindestens genauso viele Hetero-Pornos anzuschauen wie Schwulen-Pornos damit ich mir selber einreden konnte „ich bin ja nicht schwul sondern maximal bi“. Dabei haben mich Pornos mit Frauen null angemacht. Aus heutiger Sicht einfach nur lächerlich. Aber es zeigt, wie sehr man sich selbst etwas vormacht.
Vor mittlerweile vier Jahren ist es dann passiert, dass ich im Alkoholrausch mit einem Typen geknutscht habe und dachte: „Wow - so fühlt sich das also an? Geil. Und es fühlt sich für mich richtig an.“ Aber selbst danach überwog ständig die Angst. Die Angst vor einem Coming-out. Die Angst davor, meine Familie zu verlieren. Und so wurde wieder alles verdrängt und zugeschüttet. Und wieder zogen die Jahre ins Land.
Aber die Gedanken, Träume und Fantasien kamen immer wieder, immer öfter und in immer stärkerer Intensität.
Vor zwei Wochen, als meine Frau für eine Woche außer Haus war, ist mein zugeschüttetes Inneres dann plötzlich „aufgeplatzt“, wahrscheinlich ausgelöst durch einen erotischen Traum. Mir wurde schlagartig bewusst: „Du bist schwul und bist dabei, Dich zu belügen und daran zu Grunde zu gehen. In zehn Jahren wirst Du erkennen, dass Du Dein Leben lang zu feige warst, nach Deinem wirklichen Ich zu suchen und Du wirst es so sehr bereuen, dass du daran zerbrechen wirst“.
(Dass ich jetzt schon immer verbitterter und depressiver werde, habe ich bereits festgestellt - auch wenn ich mir natürlich andere Begründungen dafür zurechtgelegt habe.)
Besuche in einschlägigen Chats im Laufe der Woche bestätigten mich noch weiter darin, zu erkennen, dass ich auf Männern stehe und so hat sich die Entscheidung entwickelt, dass ich endlich Schluss mit dieser Lüge machen und irgendetwas verändern muss, wenn ich nicht die letzte Selbstachtung vor mir verlieren will.
Als meine Frau zurück kam, hat sie sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt und obwohl es ihr Geburtstag war und ich mir fest vorgenommen hatte, es ihr erst in den Tagen danach zu sagen, hat sie so lange gebohrt, bis ich es endlich ausgesprochen habe. Es war ein extrem emotionaler Moment und ich hab geheult wie ein Schlosshund. Die Erleichterung, alles rauszulassen, war enorm.
Die Reaktion meiner Frau war unfassbar und seitdem weiß ich wieder genau, warum ich sie geheiratet habe. Sie hat sich auf das Schlimmste gefasst gemacht und sich ausgemalt, dass ich erzählen werde, dass ich eine unheilbare Krankheit habe und sterben werde. Als sie gehört hat, dass ich „nur“ schwul bin, war sie im zunächst einmal extrem erleichtert. Wir haben danach unheimlich viel und offen geredet. Wir waren uns schon lange nicht mehr so nah wie jetzt. Die Verarbeitung des ganzen hat natürlich etwas gedauert und dauert noch immer an. Ihre Tränen kamen erst etwas später. Sie ist sehr traurig und enttäuscht, mich zu verlieren. Aber sie weiß, dass irgendwas zwischen uns nicht zu 100% gestimmt hat und ich oft unglücklich war. Und dass sie mich wahrscheinlich nie vollends glücklich machen kann. Und umgekehrt natürlich genauso. Letztendlich hat die ganze Familie darunter gelitten. Ich hoffe, dass sich jetzt auch für sie neue Wege erschließen werden. Auf jeden Fall ermutigt sie mich, meine Erfahrungen zu machen und meinen Weg zu gehen.
Ich bin mir bewusst, dass ich unglaubliches Glück mit dieser Reaktion hatte. Und dass das nicht die Normalität ist. Ich habe mit dem Allerschlimmsten gerechnet: dass ich meine Frau, meine Familie verliere, dass ich ausziehen muss, hatte keine Ahnung wohin. „Wie soll das funktionieren?“, „Wo bekomme ich eine neue Wohnung her?“ und so weiter - und trotzdem hatte ich mich dazu entschlossen den Schritt des Coming-outs zu machen. So stark war die Überzeugung, dass ich es machen muss, da ich es sonst irgendwann bereuen werde.
Jetzt bin ich in der Phase „danach“. Ich merke wie mein Kopf wieder die Führung übernimmt und mir einzureden versucht: „Bist Du Dir wirklich sicher? War es das wirklich wert? Was hast Du nur gemacht? Wie stellst Du Dir das vor? Du bist 48, Deine attraktivsten Tage liegen längst hinter Dir und die Typen, die Dir gefallen schauen Dich doch mit dem A… nicht an.“
Ich muss mir immer wieder bewusst machen, dass mein Drang, mich zu outen so stark war, dass ich dafür meine Familie auf Spiel gesetzt habe. Der Moment in dem wieder der Kopf, die rationale Seite, die Führung übernimmt, ist schwierig. Dieser ständige Kampf zwischen Kopf und Bauch macht mich echt fertig.
Vielleicht hätte ich mich ihr gegenüber erst outen sollen, nachdem ich erste Erfahrungen gemacht habe und mir sicherer gewesen wäre. Aber ich wollte sie nicht bewusst hintergehen und betrügen. Wäre für sie wohl auch schwerer zu ertragen gewesen.
Momentan habe ich das Gefühl, völlig ahnungslos an einer riesigen Kreuzung zu stehen und nicht zu wissen, welchen Weg ich nehmen soll. Ich kann mir ein Leben ohne meine Familie nicht vorstellen und träume nicht unbedingt von einer festen Beziehung mit einem Mann. Trotzdem möchte ich jetzt die neue Welt kennen lernen, möchte Leute kennen lernen, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich, mich austauschen, Erfahrungen sammeln.
Mit meiner Frau habe ich mich darauf geeinigt, dass wir zunächst einmal zusammenbleiben - besonders wegen der Kinder (die Jüngste ist erst elf) - und eine offene Beziehung führen, so dass ich mir über meine Zukunft klar werden kann.
Für meine Frau muss das unglaublich schwer sein, denn sie weiß ja nicht, wo es hinführen wird. Aber ich glaube, sie hat sich schon darauf eingestellt, dass sie mit mir nicht alt werden kann und das macht sie sehr traurig.
Ob sie es tatsächlich aushalten wird, weiter mit mir zusammen zu leben, kann ich momentan nicht sagen. Ich habe jedenfalls die allergrößte Bewunderung für Sie und liebe sie mehr als zuvor.
So, das tat gut, sich alles mal von der Seele zu schreiben. Sorry wenn es zu lang geworden ist. Vielleicht findet sich der ein oder andere in der Geschichte wieder und kann mir ein paar Tips geben. Wenn ihr in einer ähnlichen Situation wart, wie ging es für euch weiter? Wo lerne ich am Besten „Gleichgesinnte“ kennen? Welche Fehler sollte ich nicht machen?
Ich würde mich sehr über ein paar Kommentare freuen!
Kai