(Vorab ein
TW: s.*** Missbr***, kommt eher nebensächlich vor, aber will niemanden mit dem Thema belasten, hab es auch unten im Text noch mal markiert)
Liebe Community,
wie so viele habe ich jetzt einige Zeit mal mitgelesen, und versuche mich jetzt mal darin, pünktlich zum Pride Month, meine derzeitigen Gedanken aufzuschreiben – so als nächster Schritt. Ich hab euch glaube ich im Januar gefunden und seitdem kam noch mal viel ins Rollen.
Ich bin w, 32, und besonders durch den Corona-Lockdown und der ganzen Zeit, die man ja so auf sich zurückgeworfen ist, habe ich in den letzten Monaten immer mehr begriffen, dass ich lesbisch bin.
Eigentlich habe ich das die letzten Jahre immer auch punktuell schon mal 'realisiert', es gab z.B. eine Frau, bei der ich wie vom Blitz getroffen war. Ich glaube sie hat das sofort gecheckt, und ich indirekt auch, aber unsere Lebensumstände waren in der Zeit so kompliziert und verschieden, dass nichts weiter passiert ist. Außerdem war sie zu der Zeit auf dem Weg in eine neue Beziehung, und in unseren Gesprächen meinte sie, dass sie hofft, dass diejenige nicht eine ist, die sich derzeit selbst im Lesbisch sein findet, darauf hätte sie keine Lust mehr – das hat irgendwie bei mir gesessen und mich dann erst mal meine Gefühle wieder verdrängen lassen. Wir haben auch seit damals keinen Kontakt mehr (das ist jetzt schon 6 Jahre her).
Während der Zeit damals war ich auch seit 5 Jahren in einer Beziehung zu meinem damaligen Freund – jetzt in der Rückschau merke ich, dass ich da nie so ganz 'authentisch' war.
Aber irgendwie sitzt seitdem auch die Angst tief, dass wenn ich mich in eine Frau verliebe, diese niemanden will, die das Coming In und Coming Out noch vor sich hat, und habe das Thema wieder total verdrängt. Angst davor, dann verletzt und zurückgewiesen zu werden.
Jetzt habe ich mich vor zwei Jahren erneut verliebt – für mich was Besonderes, aber auch wieder kompliziert, weil sie nicht in Deutschland lebt, in einer Beziehung war (sich aber von ihrer Partnerin getrennt hat). Wir haben mal 2 Wochen gemeinsam verbracht; ich habe sie besucht, als sie eine Weile in Deutschland gelebt hat. Ich habe ihr gegenüber auch bisher nichts gesagt, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich erst mal selbst finden muss. Trotzdem habe ich mich bei ihr in so einem Nebensatz damals geoutet – witzigerweise bevor ich mir das selbst so richtig eingestehen konnte. Mir geht es auch derzeit nicht (hauptsächlich) darum, ihr näher zu kommen – wir haben relativ regelmäßig Kontakt und ich schätze das sehr (und es gibt auch Signale, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob ich das interpretiere, oder da wirklich was ist zwischen uns) – sondern eigentlich darum, erst mal mein Coming In für mich klar zu kriegen.
Das geht für mich derzeit parallel mit dem Coming Out – vor Kurzem habe ich mich bei zwei Freunden geoutet, weil es halt auch beim Aussprechen noch mal realer wird. Ich war einerseits erleichtert – aber irgendwie hatte ich das Gefühl als wär das Ganze bei mir noch nicht richtig angekommen. Ich stand irgendwie so neben mir, kann auch noch nicht wirklich ausführlicher darüber sprechen bei meinen Freunden, und ich zweifle auch ständig, ob das nicht irgendwie eine Phase ist, oder ich mir was einbilde, oder die Idee toll finde, lesbisch zu sein. So Stimmen im Kopf... Bei anderen, sehr engen Freundinnen und auch bei meiner Familie steht das Coming Out noch aus – aber vielleicht brauch ich noch ein bisschen.
Andererseits gibt es Momente, in denen es glasklar ist und es sich richtig gut, befreit, richtig anfühlt, dass ich mich zu Frauen hingezogen fühle, als ob sich da was in mir "gerade rückt" – vor allem wenn ich draußen unterwegs bin reagiere ich inzwischen ganz anders auf Frauen, nehme sie viel bewusster wahr, was ich bis dato immer total unterdrückt habe.
Männer haben mich im Grunde nie so richtig interessiert haben, bzw. habe ich sie nicht so wahrgenommen. In der Jugend war das eher so ein Nachahmen meiner Freundinnen, die auf einmal Jungs super fanden und sich alles nur noch darum drehte – davon war ich eher genervt, habe aber trotzdem mitgemacht, um da irgendwie dazu zu gehören.
Das wird mir aber alles jetzt erst klar – auch, dass es im Grunde seit meiner Kindheit immer wieder Frauen gab, die ich "anders" wahrgenommen habe. Wenn man das so sagen kann, bereits im Kindergarten fand ich eine meiner Erzieherinnen toll, dann gab es in der Schulzeit zwei Lehrerinnen, die ich super fand – konnte das aber überhaupt nicht einordnen und benennen. Heutzutage frage ich mich, ob nicht auch einige meiner Schulkamerad*innen homosexuell, bi-, non-binär etc. waren, und das einfach überhaupt nicht Gesprächsthema war. Ich war allerdings auch krasse Außenseiterin, sodass ich davon nichts mitbekommen habe und auch überhaupt keine Ansprechpartner*innen hatte. Es gab also gar keine Begrifflichkeit dafür.
Komisch, so eine Rückschau zu starten, es ist als würde sich die eigene Geschichte noch mal neu sortieren. Das ist aufregend, spannend und anstrengend zugleich.
TW: s.*** Missbr***Generell ist bei mir eh das Thema Sexualität eins, das irgendwie eher total versteckt vorhanden ist – in den letzten Jahren habe ich mich erst mal darum kümmern müssen, den erlebten sex.**n Missbr*** in der Kindheit aufzuarbeiten. Ich bin darüber in den letzten Jahren sehr viel "gesünder" geworden, sodass jetzt Raum und Energie dafür da ist, zu entdecken, wer ich eigentlich bin.
TW: s.*** Missbr*** ENDE
Außerdem war mein Vater schwul, was ich allerdings erst erfahren habe, als ich 17 war, ein ganz großes Geheimnis in unserer Familie. Ich glaube, dass sich da ganz viel an tiefer Scham, Angst vor Paragraph 175 etc. unbewusst/unausgesprochen auf mich übertragen hat. Ich weiß nicht viel über die Zeiten damals, und kann ihn leider auch nicht mehr fragen, weil er schon früh gestorben ist.
Aber ich hab das Gefühl als hätte ich bishierher mein Lesbischsein auch verstecken müssen, aus Schutz (ja vor was eigentlich), übernommene Muster meiner Eltern etc., – dabei denke ich, dass das eigentlich gar nicht "mein" Gefühl ist – ich stell es mir eher schön vor, irgendwann mal in einer Beziehung mit einer Frau zu leben, offen und frei und freu mich auch, das zu entdecken. Ich wünsch mir das auf jeden Fall sehr. Auch den Sex mit einer Frau stelle ich mir als sehr schön vor – auch irgendwie "richtiger", "angekommener". Mit Männern war es zwar schön, aber dann nie so ganz stimmig, auch wenn mir das jetzt erst klar wird.
Ich hoffe echt, dass ich es in Zukunft lerne, mehr bei mir anzukommen und zu mir zu stehen, dass sich das Thema auch irgendwie "leichter" anfühlt. Vielleicht ist mein Schreiben hier einer der ersten Schritte dahin. Ansonsten ist es spannend z.B. mich in vielen Serien/Filmen/Büchern mit den Figuren ganz anders/neu identifizieren zu können, vieles dadurch auch in Worte fassen zu können, und zu sehen, dass ich gar nicht so isoliert und alleine bin, wie sich das streckenweise anfühlt. Es fühlt sich an, als ob nach und nach das Leben noch mal bunter wird / werden könnte.
🌈Danke für's Lesen und Happy Pride Month! Schön, dass es euch gibt. 🏳️🌈
Liebe Grüße
Kaj