Hallo Tobi!
Nachdem ich deinen Eintrag gelesen habe, dachte ich, ich schreibe auch mal einen Eintrag dazu, um dir aber auch anderen Lesern zu helfen. Vielleicht bin ich bei diesem Thema nicht der beste Ansprechpartner, aber ich kann mich an manchen Stellen sogar sehr gut wiedererkennen. Bin jetzt 29 Jahre alt, habe Eltern, die ursprünglich nicht aus Deutschland stammen, selbst eher konservativ sind, katholisch, der Schein nach außen ist wichtig, nur nichts anmerken lassen, immer Angst davor, alleine zu enden...
Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit meiner eigenen Sexualität und nach dem Lesen der bisherigen Einträge im CO30-Forum kann ich nur sagen, dass letztlich nur zwei Möglichkeiten bleiben: Entweder man lebt so weiter wie bisher, outet sich nicht, findet vielleicht irgendwie eine Frau, die man "nett" findet, stürzt sich Hals über Kopf in eine Beziehung, um nicht alleine bleiben zu müssen, hat später vielleicht auch Kinder, lebt vielleicht heimlich ein Doppelleben aus, belastet sich damit selbst und auch unbewusst die anderen (Frau/Kinder/Umfeld), belügt also alle Menschen, die man gerne hat, in seinem Umfeld, bleibt aber ein Leben lang unglücklich und gebrochen, fragt sich, was wohl gewesen wäre wenn und wird am Ende auch noch krank davon. Oder man ergreift die Chance sein eigenes Leben als das zu betrachten, was es letztlich auch ist... nämlich einmalig und kostbar, und steht zu seinen Gefühlen, sucht Kontakt zu anderen, denen es ähnlich geht, befreit sich von jeglichen "Dämonen" im Kopf, die einem einreden wollen, wie falsch und krank die eigenen Gefühle sind, lernt neue Menschen kennen, schließt vielleicht auch neue Freundschaften, taucht ab in die "neue" schwule Welt, genießt diese neue Freiheit einfach so gut es geht und so wie man selbst will, lernt sich selbst zu akzeptieren, verliebt sich vielleicht auch in einen Mann, beginnt sich endlich als neuen, glücklichen Menschen wahrzunehmen, verzichtet auf ständiges Verstellen und Lügen und letztlich erkennt, wie befreiend es doch ist, wenn man nicht auf jede Kleinigkeiten achten muss, Schauspielen muss usw., sondern einfach man selbst sein kann.
Bin vielleicht kein Experte auf dem Gebiet, aber mein Rat ist auf jeden Fall eher die letztere Alternative: Bevor man selbst krank wird, muss man erkennen, dass man nur ein Leben zur Verfügung hat und man auch eine Pflicht vor sich selbst hat, diese Chance nicht einfach wegzuwerfen. Es gibt auch viele Heteros, die einsam und allein sind, keine eigenen Kinder haben, vielleicht auch keine Eltern und Freunde haben, aber die ihre Neigung nicht unterdrücken. Dieses Unterdrücken ist nämlich einfach keine Lösung für das Problem. Es macht alles nur viel schlimmer. Was bleibt, ist ein unglückliches Leben mit der Gewissheit, nie so gelebt zu haben, wie man es tief in seinem Herzen möchte. Dies führt auch zu Verbitterung und Freudlosigkeit, die auch krank machen, seelisch und körperlich.
Eigentlich ist es einfacher als man denkt... keine Lügen mehr und endlich so leben wie man es sich vielleicht schon immer heimlich vorgestellt habe. Und doch weiß ich aus eigener Erfahrung, manchmal ziehen dunkle Wolken (Gedanken) hoch und man hinterfragt alles nochmal und wartet mit einem Coming-Out, vielleicht erst ein paar Tage, dann Wochen, Monate, Jahre... und nochmal von vorne das Ganze. Wenn ich den Mut früher aufgebracht hätte, hätte ich nicht all die schönen kostbaren Jahre verschenkt, in denen ich einfach hätte glücklich gewesen sein können. Natürlich die Angst: Wie reagieren die Eltern, Bekannten, Freunde? Aber ist es besser, zu lügen, einfach nur für andere zu schauspielern, damit man nach außen eine schöne Fassade aufbauen kann? Ist es richtig, sich für seine Gefühle schämen zu müssen, sich sogar davor zu ekeln? Auch wenn man sich eine Frau sucht, sie anlügt, nur mit ihr zusammen ist, um vielleicht Kinder zu haben und eine Familie zu gründen, um nicht alleine zu sein oder damit die eigenen Eltern stolz und glücklich auf einen sind... ist das etwa die richtige Lösung? Meine Eltern haben nicht aus Liebe geheiratet, es hat auch bloß quasi einen Zweck erfüllt... schön ist das auch nicht, als Kind später die Wahrheit zu erfahren und zu wissen, das man nicht das Produkt einer tiefen, wahren einzigartigen Liebe zweier Menschen geworden ist. Es zerreißt mir manchmal selbst das Herz meine Mutter zu sehen, die meinen Vater nie richtig geliebt hat, sondern auch heute nur aus Pflichtgefühl mit ihm noch zusammen ist und die vielleicht nie das Glück hatte, die wahre Liebe zu finden, jemanden, der sie genauso liebt wie sie ihn. Schon als Kind wusste ich... so ein Leben will ich nicht! So war das aber halt damals auf dem Dorf... Vielleicht auch ein Grund dafür, warum ich so lange, niemanden an mich rangelassen habe. Habe auch schon sehr früh gemerkt, dass ich anders bin. Habe nichts gesagt... so viele andere Dinge kamen dazwischen, die berühmten "Baustellen" im Leben, die einfach wichtiger waren. Da waren Probleme in der Familie, Probleme in der Schule, Probleme mit dem Studium, etc. Konnte mich da nicht auch noch um ein Coming Out kümmern. Wollte früher vorallem niemanden belasten und hatte Angst vor den Reaktionen der anderen, also spielt man den normalen Sohn, Mitschüler, Freund. Dann kommt auch noch die Pubertät und die Gefühle werden stärker, doch man verdrängt es. Hin und her, bis die Jahre vergehen und man eines Tages wie von Geisterhand kurz davor ist, innerlich zusammenzubrechen, zu platzen.
An dem Punkt an dem man spätestens merkt, dass das Versteckspiel einen so sehr belastet, dass man kurz davor ist, kaputt zu gehen und krank zu werden... da sollte man unbedingt die Reißleine ziehen und beginnen zu erkennen, dass man sein bisheriges Leben ändern muss. Dem einen hilft es seine Probleme aufzuschreiben, der andere tauscht sich vielleicht lieber mit anderen Menschen aus, spricht mit ihnen und sucht nach Selbsthilfegruppen oder so. Es gibt heutzutage viel mehr Möglichkeiten als man denkt.
Jeder Mensch sehnt sich doch ganz tief drin nach Liebe, dem Gefühl von jemandem geliebt zu werden, so wie man ist! Was nützt einem der Schein und die ganze Fassade, wenn man später mit 80 oder so aufwacht und erkennt, dass man sein ganzes Leben eine Lüge gelebt hat, nur um anderen (den Eltern, den Freunden, dem Umfeld) zu gefallen und nicht alleine bleiben zu müssen. Ehrlichkeit, vorallem zu sich selbst, ist wichtig. Man sollte später in den Spiegel schauen können und zu sich selbst sagen können, dass man vielleicht nicht immer den geraden Weg gegangen ist, sicher einige Fehler gemacht hat, aber dass man ehrlich zu sich selbst war und dass man mit sich am Ende dennoch zufrieden war. Viele Menschen wollen von ihren Freunden, Eltern, Bekannten, usw. akzeptiert und geliebt werden, aber man vergisst oft, dass jeder Mensch eigene, individuelle Bedürfnisse hat und auch ein Recht darauf hat, sich selbst auszuleben und glücklich zu sein. Auch die Angst, wie z. B. die Eltern reagieren könnten, ist verständlich, aber wünschen sich nicht alle Eltern, das ihr Kind glücklich und gesund lebt? Tief in mir glaube ich, das diese Angst viel, viel schlimmer ist als die eigentliche spätere Reaktion der Eltern auf ein Coming Out. Wenn mich heute jemand fragt, was ich z. B. bereuen würde, fielen mir sicher viele Dinge ein, aber das, was ich am meisten bereue, ist es, nicht schon viel früher den Mut aufgebracht zu haben, offen sagen zu können, dass ich schwul bin. Die Jahre sind vergangen und mal wollte ich mich outen, dann hatte ich wieder Zweifel und immer so weiter... jetzt könnte ich mich auch allein und einsam fühlen, aber erstaunlicherweise tue ich das eben nicht. Denn durch dieses Forum ist mir klar geworden, dass mir niemand diese vergeudeten Jahre zurückbringen wird, ich aber nicht alleine bin, weil es eben so viele andere Menschen in der Welt gibt, denen es ähnlich wie mir geht. Klar, niemand sollte gezwungen werden, sich sofort und bei jedem outen zu müssen, aber die eigene Gewissheit zu bekommen, dass die eigenen Gefühle vollkommen ok sind, ist der Anfang. Wenn ich dies schon früher begriffen hätte, hätte ich nicht so eine "dicken Schutzpanzer" zwischen mir und meinem Umfeld aufgebaut. Vielleicht wäre ich ein anderer Mensch geworden, mit weniger Selbstzweifeln und nicht so still, schüchtern, unsicher, scheu wie jetzt. Wollte aber niemanden verletzen, habe geschwiegen, mein Innerstes bis zum Geht nicht mehr verdrängt und viele Menschen sicher mit meiner Art abgeblockt, sogar meine eigene Schwester. Erst wenn man anfängt, sich selbst zu akzeptieren, kann man auch auf andere Menschen wieder besser zugehen und gewinnt dadurch mehr Selbstvertrauen. Dieses Selbstvertrauen kann man widerum dazu nutzen, auf andere Menschen zuzugehen und somit neue Menschen kennenzulernen und am Ende ist man weder allein noch einsam, sondern einfach nur glücklich und letztlich auch gesund. Diese Erkenntnis hat mich selbst auch viel Zeit und Kraft gekostet, aber jetzt geht es mir auch deutlich besser als früher. Das Lachen, das ich selbst verloren habe, kommt sogar manchmal wieder zurück.
Habe leider niemanden in meinem direkten Umfeld, der so wie ich fühlt. Freunde habe ich eigentlich gar nicht. Konnte anscheinend selbst kein guter Freund sein, weil ich immer aufpassen musste, wie ich mich benehme, was ich sage, was ich tue... Dabei wäre es mir wirklich egal gewesen, ob sie hetero, homo oder was auch immer sind. Dieses ganze, jahrelange Versteckspiel aber hat mich also einsam und allein gemacht und nicht meine Neigung, dass ich auf Männer stehe. Diese Neigung ist auch kein Fluch, sondern sie gehört quasi wie ein Puzzle-Teil zu mir. Irgendwann denkt man, wie traurig so ein schwules Leben doch sein muss: Keine Kinder, keine Enkelkinder... aber dann erkenne ich auch, dass ich im Moment dafür einfach auch noch nicht bereit wäre. Die Verantwortung, die Sorgen um sie, die unsicheren Zukunftsaussichten, usw. In meiner jetzigen Verfassung könnte ich damit nicht umgehen. Aber vielleicht kommt es später ja doch anders und ich finde einen Mann, der selbst Kinder hat oder irgendwann wird man als schwules Paar Kinder adoptieren können, denen man schließlich auch ein schönes Leben ermöglichen kann oder so. Man weiß nie, was das Leben noch so alles mit sich bringt. Nur seit ich mir eingestanden habe, dass ich schwul bin, merke ich wie befreiter ich bin.
Ich kann nur jedem raten: Hört auf euer Herz und nicht auf die Stimme im Kopf! Wenn man das alleine nicht schafft, sucht man sich am besten Hilfe in Coming-Out-Gruppen hier oder sonst wo in der Nähe. Der erste Schritt scheint nicht leicht zu sein, aber wenn man ihn hinter sich gelassen hat, fällt einem auf, wie lange man sich umsonst gequält hat. Auf Dauer eine Lüge zu leben schadet einem nur... bis man am Ende vielleicht sogar daran endgültig zerbricht. Man darf sich auch ruhig die Zeit lassen, die man braucht. Niemand sollte dazu gezwungen werden, sich vor jedem outen zu müssen. Aber beginnen sollte man bei sich selbst und man muss lernen, dass ein Versteckspiel nicht die Lösung sein kann. Erst wenn man es sich selbst eingestanden hat, wird man erkennen können, dass das Leben nicht nur aus Lügen, Verdrängen, Verstecken, usw. besteht, sondern so viel mehr zu bieten hat. Vielleicht werde ich in einigen Jahren sogar über meine eigene Dummheit lachen können, wenn ich erkannt habe, dass mein jetziges Leben viel schöner, angenehmer, besser, erträglicher,... als mein damaliges Leben ist. Was ich z. B. als erstes nach meiner Anmeldung in diesem Forum gelernt habe, ist... DU BIST NICHT ALLEIN!
Liebe Grüße
Daniel