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Enttäuscht vom Coming Out?

geschrieben von relay 
Enttäuscht vom Coming Out?
06. Februar 2024 13:22
Die Überschrift ist vielleicht ein wenig überspitzt. Kurz zu mir, ich bin 40 und hatte vor ein paar Wochen mein Coming Out. Das ist eigentlich (enge Familie) sehr gut gelaufen. Ich hatte die größten Horrorvorstellungen was denn alles passieren könnte und eigentlich ist gar nichts passiert. Einerseits bin ich froh jetzt zu mir selbst stehen zu können, andererseits bin ich ein klein wenig enttäuscht das sich so gar nicht viel bei mir verändert hat.

Ich bin ein (anfänglich) recht zurückhaltender Mensch, der sich sehr schwer tut auf Menschen zuzugehen. Freundeskreis eher Fehlanzeige, ich leb(t)e recht isoliert, obwohl ich z.B. beruflich voll und erfolgreich im Leben stehe. Ich lebe ländlich ohne wirklichen Kontakt zu anderen homosexuellen Menschen. Mein schwul sein hatte daran schon seinen Anteil, obwohl es mir bereits sehr früh zu 100% klar war das ich schwul bin konnte ich nicht dazu stehen. Ich habe es verdrängt, mich isoliert und zunehmend niemanden mehr an mich heran gelassen. Mannigfaltige psychische Probleme folgten bis hin zur ausgeprägten sozialen Phobie und einem praktisch nicht existierenden Selbstwertgefühl.

Nach einer tiefen und einschneidenden Lebenskrise vor etwa einem Jahr habe ich es endlich geschafft/gewagt mir professionelle Hilfe zu holen. Ich hatte diesbezüglich Glück gleich beim ersten Versuch auf die richtige Therapeutin zu treffen die mich Stück für Stück wieder aufgebaut hat. Meine Probleme sind nicht verschwunden, aber der Unterschied zu vor einem Jahr ist schon deutlich sichtbar, trotzdem muss ich jeden Tag gegen meine Ängste kämpfen.

Mit einem kleinen und zerbrechlichen Selbstwertgefühl ausgestattet kam dann irgendwann das Thema Outing sowie überhaupt das ganze Thema Sex, Beziehung etc... bei mir innerlich an die Oberfläche. Ganz ehrlich auch das hätte ich vor einem Jahr noch nicht für möglich gehalten. Ich habs dann vor Silvester durchgezogen und mich bei meiner Schwester (engste noch lebende Familie) geoutet. Diese hat großartig reagiert und ehrlich gesagt die Sache war nach 10 Minuten gegessen.

Das wars also vor dem ich mein Leben lang Angst hatte? Hört sich jetzt blöd an, aber erst an diesem Punkt wurde mir bewusst ich "muss" mich ja immer wieder und wieder und wieder outen. Ich habe jetzt einige dieser Outings hinter mir und alles war eigentlich immer ohne großes Tamtam. Aber irgendwie nervts mich bereits. Wenn dann mal wieder irgend eine Tante frägt XXX hast du eine Freundin? oder (ebenfalls völlig neue Situation für mich) eine Bekanntschaft aus dem Gym meint Sie müsste mich jetzt mit einer Freundin/Bekannten etc.. verkuppeln. .... und ich darf schonwieder das erklären anfangen. Klar es ist ja kein muss, aber ich verstecke mich nicht mehr. Es ist kein Geheimnis (mehr).....

Irgendwie hatte ich ja diese kindliche Vorstellung nach dem Outing würde sich mein ganzes Leben schlagartig verändern, ich könnte meinen ganzen Ballast abwerfen, all das was mich belastet hat. Ich wäre eigentlich ein neuer Mensch. Dem war/ist nicht so. Trotzdem würde ich nicht wieder zurück wollen, vielleicht braucht es auch seine Zeit. Ich merke zunehmend so richtig weiß ich noch nicht wer ich bin. Die "Fassade" nach außen die kenne ich, das darunter muss ich erst für mich selbst entdecken. Nur Schade das ich dazu erst so spät im Leben komme ....



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 06.02.24 13:24.
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
08. Februar 2024 15:50
Hallo relay,

"Nur Schade das ich dazu erst so spät im Leben komme ...."

das geht vielen so. Wichtig ist nur, sich so zu akzeptieren, wie man ist und was man ist. Zu sich selber stehen.

Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand.
Die Veränderung beginnt bei mir selbst.
Liebe ist meine Rebellion.
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
08. Februar 2024 20:20
Hallo relay,

vielen Dank das Du hier deine Geschichte teilst. Immherhin bis Du erst 40 - ich war damals 47, als mein Weg begann.

Ein großer Schritt ist nun getan. Jetzt dürfen "kleine" folgen. Was könnte in deinem Fall so einer sein?
Es dürfen auch gern viele viele kleine Schritt sein.

Ein Outing kann laut, aber auch "leise" erfolgen. So hatte ich jemanden gesagt, als er mich fragte, ob ich inzwischen auch wieder Interesse an einer Frau hätte, "Mir kommt keine Frau ins Haus" - Was er mit der Info macht, war mir egal.
Bei dem "Verkuppeln" ok. - erklären? Vielleicht auch da etwas anders reagieren - vielleicht hast Du eine Idee.

Ich wünsche Dir auf deinem neuen Weg - Schritt für Schritt und mit der passenden Geduld , die "neue" Welt zu erkunden.
Vielleicht finden sich hier bei CO30 andere User die auch gerade am Anfang stehen, um vielleicht gemeinsam den Weg zu gehen.
Ich hatte damals das Glück da einen neuen Freundeskreis zu finden.

GLG Maks
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
09. Februar 2024 04:40
Hallo relay!

Ich kann deine Enttäuschung total nachvollziehen!
Natürlich hab ich einen anderen Hintergrund als du - wobei ich mir selbst wohl damals auch eine Sozialphobie zugeschrieben hatte (was mein ziemlich großer Freundes- und Bekanntenkreis sicherlich mit Unglauben kommentiert hätte - aber nur weil man viele Leute um sich hat, heißt das ja nicht, dass man sich selbst nicht isoliert und total einsam fühlt. Vor allem wenn man sich ständig verstecken muss und jeder soziale Kontakt wie ein Kraftakt wirkt.)

Auch bei mir verliefen bis jetzt alle Coming-outs problemlos und das hat mich anfangs auch recht unterwältigt zurückgelassen. Ich hatte doch soooo lange Angst davor und musste so viel Mut aufbringen und dann verläuft es so … unspektakulär.
Meine Erklärung ist, dass wir dem Ganzen so viel Bedeutung gegeben haben, aber die anderen ja gar nicht nachempfinden können, wie es sich für uns angefühlt hat. Meine große Sorge war oft, dass jemand verärgert reagieren würde, weil ich so viele Jahre ein Schauspiel dargeboten habe. Und doch zeigten alle Verständnis dafür.
Ich schätze, da wir es uns selbst so lange schwer gemacht haben, sind wir es nicht gewohnt, wenn etwas reibungslos vonstatten geht und daher wirkt es auf uns womöglich „unbedeutend“.

Lass mich dich aber darin bestärken, dass all deine Schritte, von Therapie bis Outing, alles andere als unbedeutend waren! Alleine dafür bejubel ich dich und steh von mir aus auch gerne mit Ponpons neben dir und leg eine (tollpatschige) Cheerleader-Choreografie hin smiling smiley

Aufregend wird es ohnehin erst dann, wenn du dich aus deinem gewohnten Radius hinaus wagst. Ich hab schon vor meinem Outing immer gehofft, dass mich das queere Leben durch ein Szenario a la Hollywood zu sich holt. Tja … das wäre dann ja zu einfach gewesen. Nein, dieses Leben musste ich selbst betreten und dabei einige Ängste überwinden. Ich beschreibe einiges davon in meinen Beiträgen, aber die Realität war nochmal um vieles beängstigender.

Finde dein eigenes Tempo und versuche die „leichten“ Momente zu genießen - du hast ein Recht darauf, dass es auch mal leicht zugeht! Hürden werden immer wieder kommen, aber vielleicht werden auch diese mit der Zeit leichter und vielleicht auch enttäuschend, weil die Angst davor viel größer war, als sie hätte sein müssen winking smiley

Ich wünsche dir alles Gute für deinen Weg!
Wenn du Fragen hast oder Austausch suchst, kannst du dich gerne melden, auch über Privatnachricht!

Liebe Grüße smiling smiley
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
09. Februar 2024 23:32
Für eure lieben Antworten möchte ich Euch sehr danken. BlueHoodie du beschreibst es recht gut wie es sich anfühlt. Ja im Kopf ist das schwul sein immer lange das "große" Geheimnis. Wenn es raus kommt geht die Welt unter etc... und dann passiert eigentlich gar nichts.

Heute z.B. habe ichs meiner Nichte gesagt (wie verstehen uns sehr gut und haben ein recht vertrautes Verhältnis) wir haben uns unterhalten und thematisch hats einfach perfekt gepasst. Nach ca einer Minute haben wir unsere vorherige Unterhaltung weitergeführt und das wars. Heute wars aber tatsächlich das erste mal das ich mich dabei nicht "komisch" gefühlt habe. Das werte ich schonmal als gutes Zeichen.

Das die ganze "schwule" Welt mir große Ängste weckt das kann ich nur bestätigen. Ich tue mich da sehr schwer mit dem Einstieg. Einerseits überfordert und beängstigt mich alles, andererseits geht alles zu langsam. Ich setzte mich da auch selber stark unter Druck. Bisher bin ich ja eigentlich nur "theoretisch" schwul, das praktische feht noch ums mal salop zu sagen.

Da sind halt bei mir mannigfaltige Unsicherheiten vorhanden. Mir wird zwar gerne bescheinigt das ich ein "netter bin" von Frauen natürlich .... und mich auch äußerlich die letzten Monate stark verändert habe (von extrem übergewichtig ohne Bewegung der Wandel zu mehrfach Fittnesstudio pro Woche, massiver Gewichtsverlust und seit ganz neuem noch 1x Kampfsport die Woche) aber so wirklich Selbstvertrauen kann ich daraus noch nicht ziehen. Trotzdem für jemanden der vor einem Jahr praktisch immer Angst hatte wenn er nur das eigene Haus verlassen hat schon mal ein großer Wandel.

Hier in der Gegend ist man halt komplett auf Datingseiten angewiesen wirkliche andere Angebote gibt es nicht. Als mich das erste mal jemand angeschrieben hat konnte ich nicht mal zurückschreiben. Ich war in Schockstarre und bekam Panik.

Der Weg ist noch weit aber ich versuche jetzt erstmal eine Baustelle nach der anderen anzugehen.
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
19. Februar 2024 22:27
Lieber Relay,
vieles, was du schreibst, kann ich sehr gut nachempfinden.

Auch ich bin in meiner aktuellen Situation recht frustriert und ernüchtert, denn die Klarheit, die ich mir so ersehnt hatte, ist aktuell nur in der Theorie vorhanden und vor allem stehe ich mir selbst nach vorn betrachtet oft selbst im Weg.

Das liegt aber wohl auch daran, dass dieser ganze Prozess des Sich-selbst-Findens nun halt einmal erst jetzt einsetzt und nicht im Teenager-Alter. Und so fühle ich mich oft genau so verwirrt, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt und in einem Meer von Selbstmitleid, bis dann am nächsten Tag die Sonne wieder scheint.

Irgendwer schrieb mal im Forum von einer 2. Pubertät nach dem Outing, ich fand das damals übertrieben, musste aber einsehen, dass da doch mehr dran ist, als ich zunächst glauben wollte.

Schätze aber trotz allem deine Fortschritte nicht gering, die du jetzt machst, und die dir oft erst später im Rückblick bewusst werden. Es war der richtige Schritt.
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
11. März 2024 21:12
Hallo ihr

danke für eure Antworten. Ja das mit der zweiten Pupertät das stimmt. So fühle ich mich oft inkl. Gefühlswirr-war.

Mir macht das ganze (Online) Dating im Moment ja noch mehr Angst als alles andere. Aber eine Entwicklung ist da. Immerhin hab ich jetzt schon mal ein Profilbild im Profil. Ihr lacht vielleicht für mich war das aber tatsächlich ein großer Schritt. Wie schonmal erwäht ich bin extrem unsicher und auch unbeholfen im zwischenmenschlichen Bereich, leider jetzt auch kein Adonis, schaue ich in den Spiegel sehe ich zwar "Veränderung" aber gefallen tut mir das was ich sehe halt nicht.

Das auf mein Profil Leute reagiert haben (abgesehen von wirklich bizarren und verstöhrenden? Ne falsches Wort aber ich find kein besseres, Anfragen hat mich dann doch überrascht.


Große Sorgen macht mir aber weiter mein Selbstwertgefühl. Das ist doch schon massiv unterentwickelt und stört eigentlich in alle Lebensbereiche hinein. Ich kann mir halt einfach nie vorstellen warum sich jemand mit mir abgeben wollen sollte.


Ich habe einen Mann (online) kennen gelernt, super sympatisch wir können stundenlang reden. Ich war auch offen bzgl. meiner fehlenden schwulen Erfahrungen. Und ja ich fühl mich da ein wenig wie ein verliebter Teenager mit allen auf und abs.

Getroffen haben wir uns einmal auf nen Kaffee. Er möchte mich gerne wiedersehen und ich schiebe Panik. Das "Problem" ist eigentlich er ist ein toller Mann. Wenn ich ihn als gut aussehend beschreiben würde wäre das noch wirklich sehr tief gestapelt. Das Kaffee war gut besucht und wir saßen recht zentral. Ich konnte zuschauen wie sich immer wieder Frauen und Männer im vorbeigehen nach ihm umgedreht haben.
Bei mir hämmert es ständig im Hinterkopf "Was will so jemand mit einem wie mir?" das macht mich aktuell echt fertig. Ich bin da echt eingeschüchert. Ich weiß dumm. Ich weiß es spricht mein Minderwertigkeitskomplex.
Re: Enttäuscht vom Coming Out?
01. April 2024 15:37
Ich will auch mal ein kleines Update geben.

Mit dem tollem Mann habe ich mich noch mal getroffen. Er ist wirklich ein ganz Lieber der mir ganz viele Ängste genommen hat. Hatte meinen ersten Kuss (und weitere..) mit einem Mann mit ihm. Leider ist nicht mehr daraus geworden, er war da offen zu mir als er merkte das sich bei mir da vielleicht schon mehr entwickelt er das aber nicht spürt. Sprich er ist kein egoistisches Arschloch, auch nicht selbstverständlich bei nem Onlinedate.
Tatsächlich sind wir nach einer kleinen Pause weiter im Kontakt. Rein freundschaftlich (von beiden Seiten). Ich glaube da habe ich sogar mehr davon, auf lange Sicht.

Tja wie gings dann weiter. Am Tag als seine Nachricht kam (sehr einfühlsam geschrieben) war ich etwas down. Weil wir uns eigentlich an diesem Tag zu einem Date verabredet hatten und ich "andere" Hoffnungen für den Abend hatte.
Das hinterließ mich in einer etwas komischen Stimmung. Also hab ich mich gleich bei mehreren Plattformen angemeldet.
Am späten abend wurde ich dann von jemanden angeschrieben und habe das gemacht was ich für mich eigentlich immer total ausgeschlossen habe. Ich habe mich spontan mit jemanden um 23 Uhr getroffen.

Er war freundlich, nicht unsympatisch, die "aktuellen" Bilder vielleicht trotzdem schon 3 oder 4 Jahre alt ;-). Das stört mich aber nicht unbedingt. Er sah auch nicht schlecht aus also bin ich mit nach oben in seine Wohnung. Dort dann der Schock, sein Freund war auch da ....
Tja ins Detail will ich jetzt nicht gehen, das war dann mein erstes Mal, mein erster Dreier, einige erste ... (und ja alles Safe)


Für mich war es okay, die Aufregung hat mich ein wenig blockiert. Beim nächsten Mal ging es schon besser.
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