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Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken

geschrieben von linksherum 
Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
08. September 2023 06:15
Hallo in die Runde,

Ich bin neu hier im Forum, habe voller Mitgefühl und Kopf-Nicken schon vorab viele Einträge gelesen und möchte nun mutvoll einen Einblick in meine Geschichte geben.

Ich habe erst vor kurzem das bunte Licht der Welt erblickt, damit möchte ich sagen, dass ich im Mai diesen Jahres mein Coming out als lesbische Frau vor der Familie und vorab vor Freunden hatte. Ich bin 36, bin noch verheiratet mit einem Mann und habe 2 gemeinsame Kinder mit ihm.
Es brodelte schon sehr sehr lange unter der Oberfläche, denn bereits als Teenager habe ich gemerkt, dass ich auf Frauen stehe. Das Konstrukt in dem ich aufwuchs war allerdings zu eng und meine erste Zuneigung zu einer Frau stoß auf absolute Ablehnung (das war in der besagten Teenie-Zeit) und ich selbst hatte nicht das (Selbst-)Vertrauen zu mir und meinen Gefühlen zu stehen.
In den Jahren nach dieser erfolglosen Liebeserklärung flüchtete ich mich in den Leistungssport, der schon nach kurzer Zeit 7 Tage die Woche einnahm. Damit wollte ich meine Gefühle „wegtrainieren“. Doch diese Kompensationsstrategie wehrte nicht lang, ich erkrankte im Alter von 23 Jahren psychisch. Das war der Punkt an dem meine Seele das erste Mal rebellierte. Auch das war - so wie ich heute weiß - weil ich mir absolut verbot zu meinen Gefühlen zu stehen, geschweige denn meine Gefühle zu Frauen auszuleben.
Mit 24 Jahren lernte ich dann meinen Mann kennen. Er gab mir zu jener Zeit halt und das Gefühl geliebt zu werden. Und natürlich die Sicherheit der heteronormalen Welt. Das Gefühl angenommen zu werden war für mich elementar wichtig, denn aus dem familiären Kontext kannte ich nur, dass ich geben muss, wenn ich etwas bekomme.
In den Jahren mit meinem Mann verliebte ich mich natürlich weiterhin in Frauen. Kurz vor unserer Hochzeit deutete ich ihm gegenüber an, dass ich Gefühle für eine Frau hatte. Ich hatte allerdings nicht den Mut und immer noch nicht das Vertrauen in mich zu mir und meiner Zuneigung zu stehen und mich von meinem Mann zu trennen. Und für meinen Mann war ich die große Liebe. Somit lief meine Leben heteronormativ weiter - ich bekam 2 Kinder von ihm und wir kauften vor 3 Jahren gemeinsam ein Haus. Es lief soweit gut, bis ich mich schließlich in eine Arbeitskollegin verliebte und ich absolut nicht mehr wusste wohin mit mir, meinen Gefühlen und meiner Welt.
Der Schmerz (mit Schmerz meine ich das ich einerseits vollkommene Schmetterlinge im Bauch spürte und andererseits mir dies selbst so verbat) saß so tief, dass ich suizidal wurde. Ich sah keinen Ausweg für „mein Problem“.
Meine Rettung war der Weg in eine psychiatrische Klinik und anschließend der Beginn einer ambulanten Psychotherapie vor 2 Jahren, die ich bis heute fortsetze. Das Vertrauen in die Therapeutin war von Anfang an so groß gewesen, dass ich ihr „mein Problem“ bereits in der 2. Sitzung schilderte.
Drei oder vier Dutzend Sitzungen später hatte ich nun (wie gesagt im Mai diesen Jahres) mit dem zusätzlichen Hintergrund eine Frau kennen- und lieben gelernt zu haben endlich den Mut mein Coming out vor der Familie und Freunden zu vollziehen. Leider dauerte die Liebe ihrerseits nicht mehr an. Das positive daran war: dass ich seither meinen Weg gefunden habe und ihn nun gehe.
Ich empfinde diese „neue Welt“ als offen, frei und für mich richtig. Kennt ihr dieses Gefühl auch? Wie ging es euch nach dem Coming out mit der Gefühlswelt? War das auch überwältigend?

Gerne würde ich mit euch darüber ins Gespräch kommen,

Liebe Grüße meinerseits
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
08. September 2023 20:22
Hallo linksherum!

Ich freue mich unsagbar für dich, dass du dich von ganz unten wieder aufraffen konntest und nun dein „buntes“ Leben frei und authentisch leben kannst!!!

Deine Frage nach der Gefühlswelt hat mich gleich berührt, darum muss ich dir gleich antworten.
Ich weiß noch, dass ich nach meinem ersten Coming out bei meiner Frau voller Hochgefühl war - so als ob alles in mir jubelte, dass ich zu mir selbst gestanden habe.

Doch so richtig ehrliches Glück empfinde ich erst, seit dem Entschluss, dass wir uns scheiden lassen werden. Besser gesagt, habe ich es mir da erst wirklich zugestanden, glücklich zu sein. Davor hatte ich eher Sorge, dass mein Glück meine Frau verletzen könnte.

Und nun erlebe ich gewöhnliche Momente ganz anders. Bei so etwas alltäglichem wie Zugfahren blicke ich nun aus dem Fenster und spüre diese innere Freiheit, sehe die Welt draußen ganz anders an mit vorbeiziehen - schöner, bunter.
Ergibt das Sinn? ^^

Es ist, wie du anfangs geschrieben hast: als hätte man das bunte Licht der Welt erblickt smiling smiley

Danke für deinen wundervollen Eintrag, der voller Mut und Hoffnung ist!
Ich wünschte dir alles Gute und viel Buntes auf deinem weiteren Weg smiling smiley

Liebe Grüße,
BlueHoodie



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 09.09.23 14:59.
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
09. September 2023 11:35
Hello hier,

Sie sind auf dem richtigem Weg!! Congrats!!



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 13.09.23 17:32.
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
09. September 2023 12:12
Hallo BlueHoodie, hallo Lcure,

Danke für eure tollen Reaktionen auf meinen Beitrag! ☺️

Bei mir verhält es sich etwas anders und doch gleich, wie bei dir BlueHoodie.
Ich fühle mich seit meinem Coming out so erwachsen und frei. Dass es mir einen Schub an Selbstbewusstsein gegeben hat.
Ich sehe die Welt nun auch mit anderen Augen. Es ist ein befreiendes Gefühl.

Um vielleicht nochmal etwas mehr Einblick in meine Gefühlswelt nach dem Coming out zu geben. Vielleicht ist das in meinem 1. Beitrag nicht so ganz nachvollziehbar gewesen?!

Es ist momentan eine vollkommene Gefühlsachterbahn!

Einerseits bin ich so glücklich endlich den Mut aufgebracht zu haben zu mir zu stehen und dies nun ausleben zu können, was ich schon immer gefühlt habe.
Nun ist es auch ein ganz anderes Gefühl mich selbst im Spiegel anzuschauen. Ich sehe nun die Person die ich bin bzw. sein will. Es ist quasi ein echter (Lebens-)Wandel.

Andererseits habe ich nun - so wie du BlueHoodie in einem Beitrag geschildert hast - das Gefühl sooo viel verpasst zu haben, dass ich am liebsten in kürzester Zeit „alles“ nachholen möchte. Wo mir mein Verstand sagt, dass ich Zeit habe und mir auch nehmen sollte. Das Gefühl redet allerdings vollkommen gegen. Denn zu wissen wie schön und atemberaubend das Berühren, Spüren und das Küssen mit einer Frau ist, ist einfach überwältigend und löst so viel Gefühl bei mir aus, dass ich mit diesen emotionalen Ups and Downs manchmal einfach nicht so richtig klar komme.
Ich fühle mich manchmal einfach lost im Gefühls-Chaos.

Das hätte ich vielleicht schon in meiner ersten Nachricht mit schreiben sollen…
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
09. September 2023 14:51
das ist normal, ich denke alle late bloomes haben das Gefühl etwas verpasst zu haben und nachholen zu wollen. Hunger nach Frauen, den gestillt werden sollte smiling smiley
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
09. September 2023 16:53
Es geht mir nicht um das Stillen des Hungers auf Frauen, sondern darum das Gefühl zu haben die ersten 35
Jahre meines Leben „falsch“ gelebt zu haben. So kann ich mir auch keine ONS vorstellen, denn dafür wäre ich zu sehr mit Herz dabei!
Das erste Mal so gesehen, geliebt und angenommen zu werden wie ich bin, löste eine Welle an Emotionalität aus, die mich -wie gesagt - manchmal überrollt. Und ich denke, das ist auch verständlich, wenn ich bedenke, wie lange ich mir die bunte Welt selbst verboten habe.
Das letzte Jahr habe ich so viele Schlüsselerlebnisse gehabt, dass dies für 10 Jahre reichen würde. Und nun, wo die Welle an Ereignisse so langsam abebbt, komme ich mit der normalen Geschwindigkeit nicht so recht klar.
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
09. September 2023 21:13
B



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 13.09.23 17:30.
Re: Der lange Weg das bunte Licht der Welt zu erblicken
15. September 2023 06:23
Liebe Linksherum,
ich möchte dir zuallererst gratulieren, diesen Durchbruch geschafft zu haben! Trotz aller Steine und Berge, die du auf deinem Weg bis dahin hattest. Du kannst stolz auf dich sein, auch wenn du diesen Stolz vielleicht gar nicht so empfindest - ich glaube das Bild der Befreiung und der bunten Welt kann man aber genau so dafür nehmen.
Mein wirkliches Outing war vor knapp 3 Jahren mit 42. Und ich kann es nicht anders beschreiben, aber ich fühlte danach eine sprichwörtliche Tonnenlast von mir abfallen - erst da wurde mir bewusst, wie sehr das alles mein Leben belastet hatte.
Rückblickend aber sehe ich die Zeit davor nicht mit Verbitterung, aber es war meine große Angst, dass ich in das Bereuen zurückfalle. Nur - was bringt es, denn die Zeit kann man nicht zurückdrehen. Wichtig ist jetzt, dein Heute und dein Morgen zu gestalten. Ob das über eine radikale Befreiung geschieht, oder ein ganz eigener Weg ist. Du musst „nach vorne“ mit dir ins Reine kommen, „nach hinten“ ist nicht zielführend. Das kann man nur als Lehre und Erfahrung bilanzieren. Ich denke, das Bild der Raupe, die zum Schmetterling wird, ist hier sehr passend. Wie gesagt, mein Schmetterling hat 42 Jahre gebraucht. Deiner weniger. Im Vergleich zu meinem bist du deutlich früher dran. Auch so kann man es sehen. Mach dir „nach vorne“ keinen Stress, genieße deine Freiheit und erlaube dir die Gefühle, die du jetzt hast. Und schließe mit deiner Vergangenheit Frieden. Es ist dein Weg, der zu dir gehört, deine Gebirge, über die du klettern musstest, die dir die Luft nahmen, als du davor standest, verbunden mit der Angst abzustürzen, als du das Klettern in Angriff genommen hattest. Jetzt stehst du auf dem Gipfel mit einer unglaublichen, teilweise aber auch vernebelten Aussicht. Und es folgt der Abstieg in ein anderes Leben. Der herausfordernd ist, bei dem man auch abrutschen kann, und den man genau deshalb mit Bedacht gehen sollte.
Mach dir keinen Stress! Du musst nichts nachholen, nichts bereuen, nur deinen Weg gehen. Ich habe drei Jahre gebraucht, um das endlich einzusehen.

Ganz liebe Grüße
Pascal
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