Nachfolgende kleine Geschichte, die ich heute erlebt habe und auch an jedem anderen Tag erlebt haben könnte, beschreibt, glaube ich, ganz gut meine Empfindungen und mein Dilemma:
Feierabend !
Endlich ! Ich packe meine Tasche, schalte PC und Licht aus, verlasse das Büro und schließe die Tür hinter mir zu. In den Hallen der Produktion sind schon lange alle Lichter aus, ich bin mal wieder spät dran. Aber, seit dem die Kinder aus dem Haus sind, habe ich damit kein so schlechtes Gewissen mehr wie früher.
Ich verlasse das Gebäude, das Gelände und gehe zur benachbarten Bushaltestelle. Seit 23 Jahren fahre ich nun mit diesem Bus, eigentlich jeden Tag der gleiche Ablauf, nur die Gesichter der Leute wechseln mit der Uhrzeit, zu der ich Feierabend mache. Manchmal interessante Gesichter, auch müde Gesichter, junge und alte Gesichter.....und jetzt sehe ich, dass da noch jemand an der Haltestelle steht. Ein Mann, vielleicht 30 Jahre jung. Dunkler Teint. Schwarze, kurze Haare. Gepflegter und gestutzter Dreitagebart. Schlank. Nettes, schönes Gesicht. Und dann schaue ich in seine Augen. Er hat schöne Augen. Schwarz, und wenn man hineinschaut, meint man in eine unendliche Tiefe hineingezogen zu werden. Wie der Blautopf in Blaubeuren, nur eben schwarz. Und jetzt geht es mir wie immer in solchen Situationen: Ich kann nicht mehr wegschauen, habe das Gefühl, aufgesogen zu werden. Wie in meiner Pubertät fangen in meinem Bauch die Schmetterlinge an zu fliegen. Ich schaue weg, halte das aber nicht lange aus und suche seinen Blick. Und da trifft er mich, er schaut mir genau in meine Augen. Ich halte das nicht lange aus und schaue wieder weg.
Dann kommt der Bus. Ich steige ein, setze mich auf einen freien Platz. Nach mir kommt er, geht an mir vorbei in den hinteren Bereich des Busses. Die ganze Busfahrt über fühle ich ihn hinter mir, kann an nichts anderes denken.
Dann kommt der Bus am Umsteigebahnhof an. Ich stehe auf, gehe zur hinteren Tür. Plötzlich steht er neben mir, die Türe öffnet sich und wir steigen aus. Und da passiert es: Ungewollt berühren sich unsere Hände für den Bruchteil einer Sekunde. Es durchzuckt mich wie ein elektrischer Schlag. Beide kommen aus ihrer Unendlichkeit, für den Bruchteil einer Sekunde sind unsere beiden Körper miteinander verbunden, sind unsere Nervensysteme, unsere Gehirne miteinander verbunden und dann gehen beide weiter in ihre Unendlichkeit. Er geht nach links zu seinem Anschlussbus und ich gehe nach rechts zu meinem Anschlussbus.
In 10 Minuten bin ich zuhause. Bei meiner Frau seit 28 Jahren. Zwischen uns läuft schon viele Jahre nichts mehr - aber ich liebe sie.
Andreas