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Ein langer Weg bis zur Selbsteinsicht....

geschrieben von Andreas 
Re: Ein langer Weg bis zur Selbsteinsicht....
07. Februar 2014 23:13
Hallo Volker,

danke, dass Du mich wieder ein wenig runtergeholt hast. Ich mache mir wirklich schon eine ganze Zeit lang Vorwürfe, dass ich nach soviel Ehejahren jetzt plötzlich "schwul sein will" um mich so aus der Affäre zu ziehen. Manchmal schwinge ich in Selbstverurteilungen erheblich über, dass hat mit meiner Krankheit zu tun.

Zum schwulen Thema hatte ich heute zwei sehr negative Erfahrungen: Wir sitzen in unserer Abteilung in der Frühstückspause immer zusammen. Da erzählt ein Kollege, wie er einen Negerkuss in die Mikrowelle gestellt hat. Wenn man ihn nicht früh genug heraus holt, bläht er sich immer weiter auf bis er platzt. Wenn man ihn zeitig herausholt, hat man einen warmen Negerkuss, der mit Eierlikör sehr gut schmeckt. Meint ein anderer Kollege: hmmmm, ein warmer Negerkuss. Der nächste Kollege: Wow, ein warmer Neger ! Ein dritter macht daraus: Ein schwuler Neger ! Und damit haben sie ein Thema. Sofort meint ein Kollege, der zwar leicht kolerisch ist aber mit dem ich sehr gut auskomme: "Ich kann die Typen nicht verstehen. Da sind die Jahrzehnte verheiratet, haben zwei Kinder - und plötzlich kommen die an und meinen, sie seien schwul. Das gibt es einfach nicht. Die haben doch ihr ganzes Leben lang gewußt oder zumindest eine Ahnung gehabt, dass sie schwul sind. Und mit dieser Ausrede ist dann plötzlich alles möglich: Die Kinder haben 3 Väter, mehrere in Nachbarschaft wohnende schwule Familienväter fangen an sich gegenseitig über nacht zu besuchen, mal pennt der mit dem, mal die mit ihm...Patchwork-Familien und Beliebigkeit". Alle Kollegen lachten über diese Geschichte und es kamen noch ein paar abfällige Bemerkungen über Schwule. Nein. obwohl ich es schon überlegt hatte, aber in diesem Kollegenkreis kann ich mich nicht outen !

Ein weitere Erlebnis war dann auf dem Heimweg von der Arbeit, im Omnibus: An einer Haltestelle bei einer Schule steigen viele Jugendliche ein, es wird laut und chaotisch in dem Bus. Und da fängt es schon an, einer ruft quer durch dem Bus zum Anderen: Ej du schwule Sau.....und so geht das weiter bis ich aussteigen kann.

Der Tag hat mich gelehrt: Schwul sein ist gesellschaftlich immer noch geächtet, egal wie viele, auch öffentlich bekannte Persönlichkeiten sagen, "Ist doch o.k." oder "wäre nichts für mich aber akzeptiere ich".....!

Ich habe mich im Kollegenkreis in der Frühstückspause nicht angesprochen gefühlt, ich habe schweigend zugehört und an mein letztes schwules Erlebnis mit dem "Kerl" gedacht.

Mit meiner Frau spreche ich ab und zu über die Therapie, mir ist aufgefallen, dass sie dann Interesse zeigt und oft auch noch hilfreiche Anregungen geben kann. Eines steht für mich fest: Ich will mich nicht von ihr trennen, wir sind Lebenspartner, über 30 Jahre miteinander verwachsen. Ich habe zwar nur sehr selten und nur in den ersten Jahren zu ihr sagen können "ich liebe Dich", dafür habe ich oft - und sie auch - die abgemilderte Form gewählt: "Ich hab dich lieb".
Und ich finde es wie gesagt immer sehr schön, wenn wir uns abends unseren Tag erzählen.

Übrigens: "Der Kerl" hat mir gestern nach 5 Wochen Pause wieder eine sehr aufreizende SMS geschickt.....

Liebe Grüße - Andreas
Re: Ein langer Weg bis zur Selbsteinsicht....
08. Februar 2014 01:36
Hallo Andreas,

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Schuld

NEIN, Du bist nicht schuld ... und ich wage zu behaupten, Deine Krankheit hat mit Deinem verdrängten Schwulsein zu tun (ich wurde auch immer komischer und depressiver ... ist alles weg, seit ich mit mir selbst im Reinen bin ...)

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ich will meine Frau behalten

NEIN, so wie es war, oder wie es hätte gewesen sein sollen, so war es niemals, so wird es nicht sein und garnicht bleiben. Wenn DU dich gefunden hast, dann kannst Du SIE neu finden (als beste Freundin, Feindin, Unbekannte etc.)
Es gibt Leute hier, die haben Jahre damit verbracht, etwas aufrechtzuerhalten, was nicht zu halten ist, wenn man einmal daran gedacht hat "beim Kerl rauszufahren", und Du, der schon ein paarmal abgeboten ist, und jetzt "zum Abbiegen" aufgefordert wirde ... der hat nicht den Hauch einer Chance ALLES so zu lassen, wie es war ... daran geht er entweder kaputt, oder es passiert doch ... ein paar Jahre später (aber was sowieso passiert, dass kann ich auch gleich machen ... das verkürzt den Schmerz!)

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ich hab Dich lieb

ja, das kenne ich ... ich habe auch immer NUR "ich hab Dich lieb" gedacht und gesagt ... und ich meinte das so. (mittlerweile kenne ich den Unterschied zu "ich liebe Dich" ... das hat auch was begehrendes, was sexuelles, was prickelndes ... und das ist nochmal was anderes!)

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Patchwork
Ok, über Schwule wird gelästert, "schwul" ist immer noch ein Schimpfwort ... etc.

Allerdings machen mir die Erzählungen aus dem Bekannten- und Nachbarschaftskreis Deiner Kollegen Mut ... es wird Zeit, dass neben normalen Scheidungsfamilien auch andere Formen des Zusammenlebens aktzeptiert werden (früher als die Einehe erfunden wurde, wurden die Leute 30 ... das rutscht man auf einer Backe ab ... wenn man noch eine Liebschaft hat ... dann noch besser ... aber heut wird man 50, 60, 80 ...)

Ich hatte die Konstellation am Sonntagsfrühstückstisch oder bei der Konfirmation meines Sohnes ... meine Frau mit Freund, ich mit Freund ... und es war einfach nur NORMAL ... klar, die gucken, tuscheln, fragen ... aber es ist nicht das Thema. (schade jetzt ist er mein Ex ... und auch das müssen alle verkraften, die uns ehemals zusammen gesehen haben ...)

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Outing im Kollegenkreis
Am Anfang hatte ich auch das Gefühl, es rausschreien zu müssen, es jedem auf die Nase zu binden ...so erleichtert und froh war ich.

Aber auch hier wieder NEIN, das muss nicht sein ... ich habe es zwar zwei ehemaligen Kollegen gesagt, ansonsten weiß es in der Berufswelt offiziell keiner (ok, habe mal einen in der Sauna gesehen ... von weitem ... aber man plaudert das nicht aus!)

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Interesse der Frau an der Therapie
Meine Frau wollte auch sowas wie Therapie oder Partner- oder Eheberatung ... schon Jahre vorher ... die Mädels merken doch auch, dass irgendwas nicht stimmt ... (aber ich habe einfach NEIN gesagt!)

Ein Buch über eine THERAPIE war der wahre Grund für mein Coming-OUt:

Es gibt ein Buch über einen Kerl, verheiratet, der merkt, dass er auf Kerle steht ... er sagt es seiner Frau ... und sie machen eine Therapie, Paartherapie etc. nach der anderen ... immer liebevoll begleitet durch seine Frau ....

Mit 60 hat er dann endlich einen Kerl im Bett ... und obwohl er nie "geübt" hat, war es WUNDERBAR!

...

Ich wollte das Buch zerreißen, wegschmeißen, so grausam fand ich das !!!!

Und da habe ich beschlossen, neee, 20 Jahre warte ich nicht ... (ich war 47) ... ich will meinen ersten Kerl so bald wie möglich (und Voraussetzung war dafür das Outing bei meiner Frau)

Und mit viel Zureden und Glück in bestimmten Situationen habe ich es geschafft (der Regie sei dank!)

Von daher mein Tip für Dich
"Out-Now" (je eher desto besser, denn der Schmerz wächst, je länger Du und Deine Frau glauben, es ginge doch noch "gut" aus ... vor allem wenn ihr gelegentlich drüber sprecht, und Du WEISST es schon ... nee, finde ich irgendwie unfaires Spiel ... :-( ... (sorry).

Wünsche Dir Kraft und Mut und hoffentlich noch genug Wohlwollen Deiner Frau.

Alles Liebe
Victor
Re: Ein langer Weg bis zur Selbsteinsicht....
08. Februar 2014 11:46
Hallo Andreas,

Quote
Andreas
Nein. obwohl ich es schon überlegt hatte, aber in diesem Kollegenkreis kann ich mich nicht outen !

Die Frage ist ja, was soll so ein Outen den bewirken? Für Dich bewirken?

Ich wollte es am Anfang auch publik machen. Ich denke, das war ein Resultat der enormen Erleichterung und Befreiung, die ich empfunden habe, nachdem ich es meiner Frau gesagt hatte.

Du hast Dir selbst gesagt: "Ich bin schwul!" und fühlst Dich wohl dabei. Dieses Wohlgefühl möchtest Du wiederholen, wenn Du es anderen sagst. So jedenfalls habe ich es bei mir empfunden.

Dann habe ich es ein paar wenigen Leuten gesagt, meinem alten Schulfreund, zwei örtlichen Freunden. Beide haben neutral reagiert. Danach war ein bisschen die Luft raus. Ich hab gemerkt, ich brauch das eigentlich nicht. Ich habe meinen Freundes- und Bekanntenkreis angeschaut und mich gefragt: Wer ist mir so wichtig, dass er/sie es wissen soll? Wer kann es wissen? Wer ist mir egal? Dann hat sich die Spreu schnell vom Weizen getrennt.
Ich habe das Wissen so verteilt, dass es in meiner unmittelbaren Umgebung einen Kreis von Menschen gibt, vor denen ich keine Maske mehr trage. Das führt dazu, dass ich mich in deren Gegenwart viel entspannter fühle.
Darüber hinaus? Die sagen mir auch nicht, was sie in ihren Schlafzimmern treiben! Schau'n wir uns doch mal Deine Negerkuss-Kollegen an. Ist das nicht erstaunlich, wie schnell die auf warm und schwul gekommen sind? Offensichtlich lauert das bei denen doch dicht unter der Oberfläche. Sie spielen damit, spielen mit dem Feuer. Es übt einen Reiz auf sie aus, dem sie sich nicht entziehen können. Wie oft habe ich ähnliche Geschichten gehört, wo schwule Bekannte im Kollegenkreis halt in die gleiche Kerbe gehauen haben, obwohl es ihnen gründlich gegen den Strich ging. Vielleicht saßen da ja 1 oder 2 dabei, denen es genau so geht, wie Dir? Und die sich genau so verstellen?

Und die Kids im Bus? Die spielen genauso mit ihrer Orientierung, sie fangen gerade damit an und wissen noch nicht, wohin es geht. Und fürchten vielleicht, wohin es gehen könnte und gerade deshalb bauen sie mentale Barrieren auf.

Denen allen musst Du garnichts erzählen. Ich hab es anders gemacht. Ich baue mir seit einem Jahr einen schwulen Bekanntenkreis auf. Leute, mit denen ich chatten, ein Bier, einen Kaffee trinken kann, auch ohne gleich in die Kiste zu springen. Weil ich mich da entspannen kann, denn die zentrale Frage ist von vornherein geklärt. Und ich habe begonnen, abends in Schwulentreffs zu gehen. Nicht zum cruisen, da bin ich nicht der Typ dafür. Einfach um diese Leute um mich zu haben und zu wissen: ich bin nicht allein damit.

Deshalb: Du hast ja schon mal einen Kontakt aufgenommen. Mach weiter! Geh in Internetforen, Schwulenbars, Saunas, egal. Lerne Leute kennen. Setz Dich an die Bar und rede, flirte, was auch immer. Aber pass auf, dass dabei der gesunde Menschenverstand nicht aussetzt!!! Hast Du ja deutlich genug beschrieben. Toi, toi!

Schöne Grüße

Volker
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