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Arbeit am Coming Out zwischen Hedonismus und Depression

geschrieben von ChrisOX 
Arbeit am Coming Out zwischen Hedonismus und Depression
15. März 2020 17:01
Liebe Community.

Ich bin's mal wieder.

Ich habe ein Problem. Also.
Dass ich schwul bin, bin ich mir mittlerweile 100% sicher. Aber ich habe das Gefühl jetzt geht die Arbeit erst richtig los. Ich merke, dass vieles meiner (kulturellen) Identität an meine sexuelle Orientierung geknüpft war. Es fühlt sich ein bisschen so an, als ob ich bisher mein ganzes Leben lang geschlafen hätte, ein Betäubungsschlaf, der notwendig war, um den Schrecken meiner Herkunft ertragen zu können (lieblose frigide Eltern, ein stumpsinnig-ignorantes Kuhdorf, eine Kirche, in deren klammer Muffigkeit ich fast erstickt wäre).

Meine Rettung war Punk und Anarchismus. Es gab da aber wohl eine komplizierte Wechselwirkung, einerseits würde ich heute mir damals die Haare Pink zu färben als einen ersten Vorboten meines Coming Outs sehen, andererseits liefen mir durch Punk (schrilles Aussehen, mutiges Auftreten, in einer Band spielen) plötzlich die Mädchen nach. Gut möglich, dass ich ohne Punk niemals mit einem Mädchen geschlafen hätte.
Tatsache ist aber, dass bis auf einen alle meine Punk-Freunde Heteros sind und diesen einen lerne ich gerade erst kennen. Ich habe große Angst. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch die emotionalen Ressourcen habe, die Energie und den Mut für Punk aufzubringen, aber ich habe sonst gar nichts! Wenn ich nochmal 20 wäre, würde ich auf jeden Fall alles auf die Punk-Karte setzen, aber ich bin 36 und habe nach bürgerlichen Maßstäben in meinem Leben noch nichts erreicht, außer einen Uni-Bachelor. Ich bin momentan arbeitslos und habe große Angst, alles gegen die Wand zu fahren. Es ist verzwickt.

Es fühlt sich gerade so an, dass wie ich mein schwules zukünftiges Leben gestalten will eine alles-oder-nichts-Frage ist. Entweder ich gehe nach Berlin und gründe eine queere Punkband (dort wohnen der einzige schwule Punk den ich kenne und mein bester (Hetero-)Freund -- oder ich ziehe irgendwo in die Nähe meiner Eltern, kleide mich unauffällig, mache irgendeinen Bürojob, auf die Gefahr hin, von ihrer lieblosen Frigidität gefressen zu werden.
Ich schwanke zwischen Aufbruchsstimmung und Hoffnungslosigkeit, revolutionärer Euphorie und Selbstmordgedanken.
Es ist wieder ein bisschen wie damals in der Pubertät, als ich gesagt habe: "Mama, ich möchte gerne Musik machen" und sie geantwortet hat: "Warum? CDs können das doch viel besser". "Papa, ich möchte gegen Nazis demonstrieren!" - "Irgendwann sperren sie dich ein!"
Das Problem ist, dass meine Eltern für alles, aber auch wirklich alles, was in meinem Leben schief gelaufen ist, mir die Schuld geben. Sie sind völlig uneinsichtig und verständnislos. Naja, vielleicht ändert sich das, wenn ich ihnen endlich sage, dass ich schwul bin.

Ich könnte meine Zerrissenheit ungefähr mit diesem Bild beschreiben:
Einerseits ist da ein stolzer, starker, mutiger Punk, andererseits fühle ich mich wie ein Tussie-Mädchen, das manchmal regelrecht würdelos darum bettelt, gefickt zu werden. Kalte Solidarität und schmieriger notgeiler Muff. Teenage Angst und hemmungsloser Hedonismus. Die beiden brauchen sich und können doch nicht miteinander. Ich hoffe, dass ich das irgendwie geregelt bekomme. Ich würde alles geben, um zwischen diesen beiden Persönlichkeitsextremen einen Kompromiss zu finden, mit dem ich glücklich werde.

Meine Hoffnung, an der ich mich momentan festhalte ist, dass mir neulich im Traum Justin Vivian Bond erschienen ist (Drag-Queen-Punkkünstler). Ich habe ihn gefragt, wo ich mich belogen habe und er hat mir ganz viel von meinem Heimatdorf gezeigt, aber er hat mir auch kurz New York gezeigt.
Jetzt bin ich auch wieder nicht schlauer.

Dann ist da noch was. Ich habe jemanden kurz kennengelernt, der sofort meine Nummer wollte. Er ist ein ziemlich düsterer Typ, Literaturwissenschaftler genau wie ich und ca. 1,90 groß. Ich habe Angst ihn anzurufen, Angst vor der Düsternis und ebenso vor der schieren Körperlichkeit. Aber andererseits finde ich genau das sexy.


Ich würde gerne wissen, wie ich mit solch fundamentalen Idetitätskrisen im Coming Out umgehen kann.

Lieben.Gruß.
Chris
Re: Arbeit am Coming Out zwischen Hedonismus und Depression
22. März 2020 20:41
Lieber Chris,

wie du mit der Krise umgehen sollst? - na, genauso wie du es tust smiling smiley. Einen Schritt nach dem anderen.

Es hat mir gefallen, wie du geschrieben hast, wie du mit wenigen Worten dein Elternhaus charakterisiert hast.
Da kam mir einiges vertraut vor smiling smiley.

Du bist rund 20 Jahre jünger als ich und hast einen anderen Weg der Rebellion genommen, einen anderen Weg, dich selbst zu bestätigen (ich habe mich nie so weit aus dem gut-bürgerlichen Leben heraus getraut). Aber du hast offensichtlich konsequent deinen Weg gewählt (dazu gehört auch, dass man in Maßen seine Eltern mitnimmt, sie bleiben schließlich Eltern.)

Mein Eindruck nach deinem Text ist: hier ist jemand, der findet seinen Weg, und zwar vorwärts (Berlin oder was auch immer), jedenfalls nicht zurück in die 1950er smiling smiley.
Und wenn dir jemand düster kommt - vertrau dir selbst und zieh die Reißleine, wenn dir etwas nicht passt. Manchmal macht man auch Erfahrungen, die hätte man nicht gebraucht, dann eben nur einmal.

Ich drück dir die Daumen.

LG
Zeev
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