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coming out von A bis Z

geschrieben von Maks 
coming out von A bis Z
09. März 2012 11:42
In ein Alphabet lässt sich das Coming out sicher nicht bringen und ob es irgendwann mal abgeschlossen ist, weiß ich auch nicht. Aber im Laufe des Coming outs gibt es immer wieder Erfahrungen und Erlebnisse die einen überraschen, bewegen, nachdenklich machen.
Wer möchte, kann gerne mitschreiben...



6-mal bearbeitet. Zuletzt am 09.03.12 11:57.
Re: coming out von A bis Z
10. März 2012 20:20
A wie Anfang

Aller Anfang ist schwer und noch schwerer ist es den Anfang zu finden. Wo fängt mein Coming out an? Bei den vielen Mädels, die in der Grundschule meine Freundinnnen waren und denen ich mich viel näher fühlte. Bei den Aufklärungsbüchern in der sechsten Klasse, wo ich die Bilder von den nackten Jungs immer viel spannender fand als die der Mädchen? Beim Herzklopfen, als mein Sitznachbar in der Mathestunde sein Bein an meinem rieb und ich damit überhaupt nicht umgehen konnte und meine Matheleistungen noch mehr in den Keller gingen, weil ich überhaupt keinen Kopf mehr für den Stoff hatte. Aber eben auch nicht den Mut mal auf diese Anmache zu reagieren. Auch nicht als ich ihm in Musik bei den Aufgaben half... oh wie war ich da verliebt. Aber ich habe es eben nicht rausgelassen, sondern für mich behalten... also kein Coming out.
Auch nicht als sich einer meiner Mitschüler outete, was ich unglaublich mutig fand... aber auch da hatte ich nicht den Mut etwas zu sagen...
Nein ich habe es immer verdrängt... Gefühle galt es zu unterdrücken, nach außen nur nicht die Fassung verlieren.
Selbst als bei meinem Bruder in der Klasse ein Buch zur Homosexualität gelesen wurde und das einen großen Entrüstungssturm bei den Eltern entfachte, sagte ich nichts, las aber heimlich das Buch...

....

Ich habe es unterdrückt bis es nicht mehr ging. Bis ich kurz vor einem Zusammenbruch stand... und dann hat mir das Internet weitergeholfen. Dort las ich von einem Coming out Workshop in Köln... Da bin ich dann hingegangen...
Re: coming out von A bis Z
10. März 2012 20:20
B wie Bären

War ich mal mit einem Heterofreund unterwegs. Er war etwas skeptisch mit mir in ein schwules Cafe zu gehen, aber ich sagte zu ihm, dass wäre genauso wie ein Heterocafe. Wir gingen ins Barflo (heute ist da das Morgenstern drin) und eigentlich ist da ja immer buntgemischtes Publikum. Naja an dem Tag war da ein Bärentreffen...Das Gesicht von meinem Heterofreund könnt ihr Euch ja sicher vorstellen, er hat jedenfalls schnell das Weite gesucht. Aber ich war bei so einer Ansammlung von Bären, die uns alle anstarrten, so glaubte ich jedenfalls, auch ganz schön verunsichert....
Re: coming out von A bis Z
10. März 2012 20:21
C wie Coming out

Eine Aufgabe im Coming out Workshop war es, uns gegenseitig ein Coming out zu verkaufen. Mein Partner in dieser Übung stieß aber auf Granit. Ich wollte mir partout kein Coming out verkaufen lassen. Er hat tapfer durchgehalten, aber am Ende schon gesagt ich wäre ein harter Brocken... Aber so ein ganzes Coming out an einem Stück zu kaufen, ist auch etwas zuviel... ich habe es mir dann über die Jahre aufgeteilt und auch heute noch nehme ich immer mal wieder eine kleine Dose Coming out...
Re: coming out von A bis Z
10. März 2012 20:23
D wie Dreißig
Als ich Mitte zwanzig meinen ersten Coming out Anlauf startete, da fühlte ich mich echt alt. Denn die Jugendgruppen laufen ja so von 16 bis Anfang zwanzig. Und dazwischen gibt es ja nichts. Auf der anderen Seite las ich, dass in Dortmund gay and gray schon ab 35 anfängt. Soviel zum Jugendwahn... (...jetzt wo ich 35 bin haben sie das Alter aber erhöht auf vierzig... naja wenn ich vierzig bin, dann erhöhen sie es sicher auf 45...) .
Aber eine Freundin hat schon mal vorgesorgt und mir die Broschüre "Älter werden. Schwule erzählen aus ihrem Leben" mitgebracht.
Erster Satz: "Wie ist das eigentlich wenn Schwule älter werden? Ist mit dreißig spätestens vierzig "alles vorbei"?
Aber es ist ja tatsächlich so, dass ältere Schwule in den Magazinen nur sehr selten vorkommen, es geht immer darum so jugendlich wie möglich zu sein... Dabei gibt es tatsächlich ein Leben jenseits der Dreißig und ich kann nur sagen, dass mein Leben jedes Jahr besser wird... Naja, aber ich habe ja noch fünf Jahre bis zur Vierzig...
LG Finn
Re: coming out von A bis Z
10. März 2012 20:26
E wie Eurythmie

es kommt ja fast einem zweiten Outing gleich, wenn man erzählt, dass man mal eine Waldorfschule besucht hat. Die Reaktionen reichen von mitleidigen Blicken, über das Hüpf- Sing- und Bet-abitur und der Frage, ob ich denn meinen Namen tanzen könnte. Und tatsächlich wird an dieser Schule ein Fach unterrichtet, es nennt sich Eurythmie, in dem man lernt jeden Buchstaben, aber auch Musik durch Gesten darzutellen. Und es ist ja schon leicht schwul, wenn man dann Abiturienten in wallenden Gewändern über die Bühne tänzeln sieht.
Nun werdet ihr Euch fragen, was hat nun Eurythmie mit Outen zu tun?
Eigentlich nicht viel. Aber als ich mal mit einer Arbeitskollegin in Paris war und sie von einem ihrer Freunde erzählte, der schwul sei und dessen Verhalten sie überhaupt nicht verstehen konnte, da konnte ich das dann doch sehr gut nachvollziehen. Und ich redete mich so um Kopf und Kragen, dass ich um ein Outing nicht herum kam. Das war dann das zweite Mal, dass ich einem Menschen nach meiner Mutter von meinem Schwulsein erzählt habe... Naja das zweite Outing, das ich auch meinem Namen tanzen kann, habe ich dann gleich noch hinterhergeschoben. Und das alles in einem winzig kleinen Hotelzimmer mit einer schaurig schönen Blumentapete in tiefster Nacht...
Und man kann tatsächlich so "unanständige Sachen" tanzen, wie Finn ist schwul...
Mal schauen, ob ich den Videobeweis noch nachreiche...
aber ich lasse einem jungen gutaussehenden Mann, der so schöne Sachen in Gebärdensprache sagt (vielleicht auch etwas verbreiteter als Eurythmie), den Vortritt
[www.queer.de]
LG Finn
Re: coming out von A bis Z
13. März 2012 06:59
Hallo Finn,

ich muss auch beim Lesen des Alphabets schmunzeln. Bei der Eurythmie musste ich an unsere Diskussion bei dir und zumindest an den Ansatz deinen Namen zu tanzen denken. eye popping smiley

Dann erinnerte ich mich bei uns an der Schule an den Sportkurs "rhythmische Tanzgymnastik", wo in der Stufe drüber sich die beiden Jungs die sich in diese Mädchendomäne gewagt hatten, irgendwann geoutet haben. Zum Ausgleich hatte die etwas maskulin herbe Sportlehrerin den Spitznamen Herr L****n.
Re: coming out von A bis Z
13. März 2012 09:32
M wie Menschen kennenlernen

Ein Coming-Out läßt einen Menschen kennenlernen. Wer ist dein wahrer Freund, wer ist danach nur noch ein guter Bekannter, und wer lief "unter ferner liefen".
Auch im Familienkreis zeigt sich deutlich, wer zu einem hält, und wer nicht. Wo ist wirkliche Liebe und wo sind nur Oberflächlichkeiten.
Nach einem Outing zeigen Menschen ihr "wahres" Gesicht. Einige Menschen überraschen einen positiv, von anderen ist man enttäuscht, weil man von ihnen eine tolerantere Haltung erwartet hat, aber das gehört wohl dazu.

Ein Outing ist wie eine "Wundertüte", es steckt immer was anderes drin!

Lieben Gruß

Martin



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 13.03.12 10:35.
Re: coming out von A bis Z
06. Mai 2012 10:31
N wie nackt
da hat mein Vorschreiber einige Buchstaben übersprungen und nun bin ich mit dem Buchstaben N konfrontiert. Und jetzt auch noch mit N wie nackt. O.K. habe ich mir selbst ausgesucht, aber trotzdem nicht ganz einfach.
Ein Transgender meinte mal in einem Fernsehinterview wie wichtig es für ihn wäre sich auch nackt zu zeigen, seit alle OPs gemacht sind. Und wenn man mal nach Gayromeo schaut, da kann man sich ja auch viele anschauen, wie sie sich im Adamskostüm präsentieren.
Hmmm ist jetzt nichts für mich. Erinnere mich noch an früher, da fand ich es schrecklich, wenn wir in der Schule schwimmen mussten und ich alle nackt sah und die anderen mich auch nackt sahen. Auf der einen Seite hatte ich Angst, dass die anderen merken könnten, wie spannend ich es fand andere nackt zu sehen. Auf der anderen Seite war es mir sehr peinlich, wenn die anderen mich sahen. Und so ein leiser Kommentar: "O der hat schon Schamhaare" machte mich ganz nervös. Und so vermied ich es immer, mich vor anderen nackt zu zeigen.
Und auch in meiner Kleiderwahl zeigte sich, dass ich meinen Körper gern verhüllte. Obwohl ich eher dünn war, hatte ich immer viel zu große Hosen an und auch die Pullis waren sehr weit.
Vielleicht hing das damit zusammen, dass ich meinen Körper nicht schön fand.
Ich wurde mal gefragt, was ich an mir schön finden würde. Da fielen mir nur meine Augen ein. Erst verbunden mit dem Coming out hat sich das verändert. Ich habe ein besseres Verhätnis zu meinem Körper und erschrecke nicht gleich, wenn ich mich mal nackt im Spiegel sehe (auch wenn ich ein paar Kilos zugelegt habe) und auch die Hosen dürfen jetzt auch schon mal passend sein und nicht ein paar Nummern zu groß.
Vor ein paar Jahren habe ich mich dann auch mal mit ein paar schwulen Jungs in die Sauna getraut (nein nicht was ihr jetzt denkt... es war nur eine Sauna) und ich war in einen der Jungs doch etwas verliebt, wir hatten den ganzen Tag geflirtet und so ließ ich mich überreden.
Das war dann ganz spannend, viele die ich tagsüber in voller Montur gesehen habe mal unverhüllt zu sehen , aber eben auch selbst auszuhalten nackt zu sein und für alle sichtbar.
Und dann sieht man eben nicht nur die Modells, die man immer in der Werbung sieht und die einen scheinbar perfekten Körper haben, sondern Menschen wie Du und ich. Und ich sah eben auch, dass ich kein Modell bin, aber mich eben auch nicht verstecken muss. Und so lerne ich immer mehr meinen Körper so anzunehmen wie er ist.
LG Finn
Re: coming out von A bis Z
06. Mai 2012 13:32
O wie Orte
Es gibt ein paar Orte die ganz eng mit meinem Coming out verbunden sind. Ich denke immer noch an das Hotelzimmer in Paris mit der wunderhübsch altmodischen Blümchentapete, wo ich mich zum ersten Mal bei einer Freundin geoutet habe. Oder das CO 30 Treffen in Mannheim in einem Cafe, das ich so nie betreten hätte. Da schien echt seit meiner Omas Zeiten die Zeit stillgestanden zu haben. Aber dadurch und die Begegnungen dort legendär. Oder Freiburg einfach mal hinfahren zu einem Menschen mit dem man vorher nur gemailt hat und dann auch dort übernachten. Dann die Rolltreppenfahrt unterm Sternenhimmel im Cinedom. Dass man erst mal über den Film lästert und sich dann erst gegenseitig vorstellt, war irgendwie auch spannend.
Oder auf der Museumsinsel Hombroich einfach mal zwei Männer anquatschen die auch in einem Konzert waren. Ok ich musste ihnen an diesem Tag fünf Mal über den Weg laufen und dann erst habe ich mir den Mut gefasst. Ich war einfach zu neugierig, ob die beiden nicht auch schwul wären. Na und im Gespräch stellte sich dann schnell heraus: Sie waren es.
Aber eben auch Orte zu denen ich gehe, wenn ich nachdenken möchte, weil mir dort immer die besten Gedanken kommen. Zum Beispiel eine ehemalige Kalksteingrube oder im Zug. und und und...
Re: coming out von A bis Z
08. Mai 2012 19:52
Prinzenpanik
ein schönes Wort, nicht nur wegen der zwei P. Ich finde das Wort sollte in keinem Wörterbuch fehlen.
Mir fallen gleich zwei Situationen ein, in denen ich Prinzenpanik habe.
1. Kommt er oder kommt er nicht
Wie soll ich in meinem Alter noch einen Prinzen finden? Und bin ich für einen Prinzen nicht schon zu alt. Naja Prinz Charles wartet ja auch ewig auf den Thron. Aber muss ich erst gay and grey werden bis der Prinz kütt? Und wo gibt es heute noch Prinzen? Der Mann der mich gerade anlächelt wäre er mein Prinz?

2. Und wenn er kommt, ....
Da kommt doch gerade ein Gaul um die Ecke und darauf sitzt der Prinz. Und nun? Herzklopfen.....was soll ich tun? Wie soll ich ihn ansprechen? Bin ich überhaupt genug Prinz, um ihn anzusprechen?
Dann sage ich etwas... fange an zu stottern, verheddere mich und habe eigentlich nur noch Augen für den Prinzen und denke, warum muss ich gerade jetzt so lächerlich wirken?

Und was fällt Euch zum Wort Prinzenpanik ein?
Re: coming out von A bis Z
08. Mai 2012 22:06
Prinzenpanik -
irgenwann überkommt es mich , das ich doch mal wieder Ausschau nach einem Prinzen halte.
Das immerwieder durchblättern auf den blauen Seiten , und keiner der mir gefällt, springt an.sad smiley
Also raus in die Prinzenwelt.smiling bouncing smiley
Zum Prinzenball in den Ballsaal oder in den Schlosskeller mit den dunkelen Kammern.hot smiley Oder lieber mit einem Prinzen durch die Wälder ziehen.cool smiley
Den Spagat zwischen Liebesprinz - Lustprinz und dem Leidenschaftsprinzen.

Ich glaube es überfordert mich gerade alles etwas.

Euer Maks
Re: coming out von A bis Z
10. Mai 2012 19:21
Hi Finn, da ich zur Zeit eher noch mit Prinzessinnenpanik zu tun habe kann ich einen Beitrag zur Prinzenpanik gelassen überspringen smiling smiley

Aber maks, deine Liebesprinzen, Lustprinzen und Leidenschaftsprinzen geben mir zu denken. Es klingt für mich irgendwie verkrampft und nach Druck, Belastung.
Mangels Erfahrung glaube ich nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Es ist jedoch schon öfter vorgekommen, dass ich auf den zweiten Blick jemanden noch netter fand und lieb gewonnen habe, mir auch hätte vorstellen können, dass wirklich Liebe daraus wird.

Liebe, Lust und Leidenschaft gehört dabei für mich in einen Topf. Vielleicht solltest du die Herdplatte etwas herunterdrehen, lieber langsam köcheln lassen. Kein verbrannter Geruch, sondern langsam zieht ein betörender Duft durch die Wohnung und dir wird bewusst, dass vielleicht der eine oder andere viel mehr zu bieten hat, als du bisher wahr genommen hast?
Ich weiß es nicht, nur so ein Gedanke.

Ach ja, finn, du hattest soweit ich mich erinnere irgendwann deine Abhakliste mit über 2.000 Punkten zitiert - ich glaube, die gehört am besten ins Herdfeuer.

Ich komme mir vor wie Angela Merkel als Lebensberaterin mit einem Stoß Spielkarten auf dem Tisch, Kaffeesatz und Teeblättern smiling smiley

LG
Zeev
Re: coming out von A bis Z
13. Mai 2012 10:35
Hi Zeev,
klar kann ich meine Prinzencheckliste sofort in den Ofen schmeißen und verbrennen. Was ich damit verdeutlichen wollte, dass jeder eine unterschiedliche Vorstellung hat, wie so ein Date ablaufen soll und ich da auch manchmal etwas überrumpelt bin oder eben auch schon mal andere überrumple, weil ich seine Vorstellung, was der nächste Schritt ist überspringe. Aber ich glaube da ist eben Bauchgefühl gefragt und eben auch die Fähigkeit sich einfach auf den Moment und sein eigenes Gefühl dabei einzulassen. Aber eben auch den Mut zu haben einfach mal zehn Schritte zu überspringen und das augenblickliche Gefühl einfach mal anzusprechen und mal die Reaktion abzuwarten.
Aber irgendwie finde ich, dass jeder in der ein oder anderen Form eine Prinzencheckliste hat, bewusst oder unbewusst gibt es eben manche Menschen, die sprechen eine mehr an und andere weniger. Da finde ich es schon spannend rauszufinden, wer mich nun mehr und wer mich nun weniger anspricht.
Und dann gibt es ja auch so viele Dinge die unter einen Hut gebracht werden wollen oder auch nicht: Der Wunsch nach Liebe, der nach Lust und der nach Leidenschaft.
LG Finn
Re: coming out von A bis Z
25. Dezember 2022 08:27
Okay, es sind mehr als 10 Jahre seit dem letzten Beitrag vergangen. Aber das Alphabet ist noch nicht vollständig und mein perfektionistisch programmiertes Hirn kann das nicht dulden! Ich hatte ja schon eine kleine Panikattacke, weil nach E plötzlich M folgte ... so kann ich das nicht stehen lassen :-)
Vorher aber ein großes D A N K E an alle, die bereits Buchstaben angeführt und mit ihren besonderen Geschichten gefüllt haben!

Zurück also zur Reihenfolge:

F wie Frust.

Eigentlich war mein erster Gedanke "F wie Freiheit" und dann fiel mir wieder ein, dass ich mich NACH meinem ersten Coming-out alles andere als frei fühlte. Wo war dieses befreiende Gefühl hin, das sich in mir ausgebreitet hatte, als ich die Worte aussprach und auf Verständnis traf? Es ist mir irgendwie durch die Hände gerutscht - futsch, weg. Plötzlich waren da wieder erdrückende Gedanken: "Mein Gott, ich kann nicht mehr zurück! Ich habs wirklich getan! Scheiße! Jetzt wird sich alles ändern! Nein! Hilfe! SCHEISSE!"

Ich glaube, man kann noch so bereit und sicher sein und ein Coming-out kann wunderbar und unkompliziert verlaufen, aber im Nachhinein kommt dann der Punkt, an dem man sich fragt: "Und jetzt?!"
Das gesamte Hauptaugenmerk war auf das Coming-out gerichtet. Man hat all die Energie und den Mut darauf konzentriert. In der Fantasie wuchs das Coming-out zu etwas Besonderem heran. Entweder zu etwas besonders Angsteinflößendem oder besonders Freudigem oder es war beides gleichzeitig.

Und dann ...?

Tja, jetzt schätze ich mich überglücklich, dass ich mich (vorerst nur) bei meiner Frau geoutet habe und sie so offen und liebevoll auf mich eingegangen ist. Spule ich aber an jenen Abend zurück, nachdem wir uns ein letztes Mal umarmt hatten und dann schlafen gingen, dann war da diese Frage, die in mir ein Gefühl hinterließ, das nicht Fisch noch Fleisch war (passt diese Metapher überhaupt? Egal).

"Das war alles?"

So blöd es klingt, ich war irgendwie enttäuscht, dass ich verstanden und respektiert wurde. Wie bescheuert ist das bitte? War ich etwa so sehr auf eine negative Reaktion eingestellt, dass ich mit der positiven nichts anfangen konnte? Wollte ich eine negative Reaktion? Wollte ich hören, dass ich "schlecht" oder "falsch" bin? Wollte ich Enttäuschung sehen und von meiner Frau rausgeschmissen werden?

Ein Coming-out kann vieles einfacher machen, aber damit ist die Arbeit an sich selbst nicht getan. Vor allem, wenn man wie ich, ein großes Problem mit dem Selbstwert hat. Nicht gut genug zu sein, hat man irgendwann so sehr verinnerlicht, dass man automatisch davon ausgeht, dass man es von jedem hört, den man gern hat oder liebt. Wir fühlen uns mit Zurückweisung und Ablehnung wohler, weil wir uns selbst zurückweisen und ablehnen.
Darum wollte ich wohl lieber frustriert als frei sein.

Aber ich bin inzwischen auf dem Weg, der mich hoffentlich zur (inneren und mentalen) Freiheit führt.
Re: coming out von A bis Z
25. Dezember 2022 08:57
G wie Gay

Es ist 2004 und ich bin 13 Jahre alt. Irgendwann, irgendwo habe ich das Wort "Gay" aufgeschnappt und wusste auch, was es bedeutete.

Nochmal: Es ist 2004 und ich bin 13 Jahre alt und das Internet war für mich noch recht neu. Von meinem älteren Bruder wusste ich jedoch, dass man nackte Menschen im Internet suchen konnte.

Okay, sorry, ein letztes Mal: Es ist 2004 und ich bin 13 Jahre alt, das Internet ist für mich neu und so etwas wie ein "Browser-Verlauf" war mir kein Begriff, dafür aber das Wörtchen "Gay", das sowohl Neugier und Aufregung aber auch Angst bei mir auslöste. Also sucht mein 13-jähriges Ich nach diesem Begriff. Scheinbar kannte meine Mutter den Begriff "Kindersicherung" nicht, oder mein älterer Bruder hatte diese für seine eigenen Zwecke deaktiviert.
(Anmerkung: 2004 hatten wir einen Computer, den alle Familienmitglieder benutzt haben)

Wow! Die Ergebnisse, die zu diesem Wort geliefert wurden, waren ... überfordernd? Eine Regung in der Hose, Verwirrung im Kopf, die Maus scrollt trotzdem durch die Bilder-Ansammlung nackter Männer, die alles mögliche miteinander taten.

Ich war so aufgeregt, dass ich mich am nächsten Tag gleich wieder vor den Bildschirm setzte, und dann wieder, und so weiter.

Ich weiß nicht wie viele Tage oder Wochen vergingen, aber irgendwann komme ich nach Hause und meine Mutter sitzt am Esstisch. Ihr Blick passivaggressiv. Was hatte ich angestellt? Plötzlich klatscht sie mir mehrere ausgedruckte Seiten auf den Tisch. Unzählige Internetadressen reihten sich untereinander auf, hinter denen sich wohl all die Bilder verbargen, die ich voller Aufregung betrachtet hatte.
Das Wort "Gay" stach hundertmal heraus und bei jedem einzelnen blieb mir das Herz stehen, rutschte in die Hose, wollte sich verkriechen, wollte kein Herz mehr sein, sondern lieber eine große Zehe - was erlebt die schon großes, außer hin und wieder gegen Möbel zu stoßen? Das klingt tausendmal besser, als in dieser unsagbar peinlichen, beschämenden, grausamen Situationen die Körperfunktionen eines 13-jährigen Jungen regulieren zu müssen.

Meine Mutter regte sich fürchterlich auf. Worüber? Keine Ahnung. Ich starrte nur auf die Zettel und wollte sie am liebsten zerreißen.
Es gab weder ein Gespräch über das Wörtchen "Gay", noch wurde das Thema irgendwie aufgegriffen. Meine Strafe jedoch war, dass diese Zettel bis auf weiteres am Tisch liegen bleiben mussten. Als ob meine Mutter wusste, dass das die wohl schlimmste Bestrafung hätte sein können.

Wieder vergingen Tage, vielleicht Wochen. Die Zettel blieben am Tisch liegen. Ein Glück, dass wir schon lange nicht mehr gemeinsam unsere Mahlzeiten dort verspeisten. Jeden Tag hoffte ich, dass kein Besuch vorbeikam und diese Zettel sah. Jeden Tag hoffte ich, dass meine Mutter die Zettel wegwarf.

Irgendwann dann, ich weiß nicht mehr, wie viele furchtbare Tage vergangen waren, stand irgendein wichtiges Ereignis an (Weihnachten? Silvester? Ein Geburtstag?). Jedenfalls wollte ich KEINESFALLS dass diese Zettel genau an diesem Tag dort für alle sichtbar waren. Ich ging also zu meiner Mutter und bat sie mit Dackelblick, ob ich die Zettel nur für heute wegräumen dürfte.
"Ja natürlich! An die hab ich gar nicht mehr gedacht" war ihre Aussage. Schon okay, Mama, ich habe das tagein tagaus für dich übernommen.

Ich durfte die Zettel wegschmeißen und es wurde NIE WIEDER darüber geredet.
Jeder schwieg darüber, also tat ich es natürlich auch. Es kam nie eine Frage von meinem Bruder oder meiner Mutter. Keine Ahnung, wer meinen Browser-Verlauf noch so gesehen hat? Niemals hatte jemand meine Sexualität hinterfragt.

Diese Erinnerung hat sich in mein Hirn eingebrannt und ist gewiss ein großer Grund dafür, warum ich meine "schwule" Seite ausgeblendet habe.
Zumindest habe ich daraus gelernt, wie wichtig es ist, den Browser-Verlauf zu löschen :-)
Re: coming out von A bis Z
25. Dezember 2022 14:36
H wie Homophobie

Von manchen wird die Homophobie als größte Erschwernis zum eigenen Coming-out beschrieben. Meistens alleine durch homophobe Erfahrungen aus der eigenen Familie, Bekannten- oder Freundeskreis.

Ja, es steckt geradezu die Panik in vielen, dass, sobald sie die magischen Worte "Ich bin schwul/bi/lesbisch/trans/queer/inter/asexuel/+" sagen, plötzlich eine Totenkopf-Tättowierung auf ihrem Handgelenk erscheint und sie zu Todessern werden. (Ich entschuldige mich nicht für diese Harry Potter Referenz!)

Wir alle kennen die fürchterlichen Ausmaße der Homophobie durch Medien und vielleicht persönliche Erfahrungen. Und doch fürchten wir uns schon viel früher. Nicht erst, wenn uns jemand mit geballter Faust droht - nein, oft reicht schon ein Augenrollen, das einem Bauchschlag gleichkommt.
Wie kommt es, dass dann unser primitiver Fluchtinstinkt einsetzt? Etwa weil wir das Augenrollen mit dem Angriff eines Säbelzahntigers gleichsetzen?

Gegenfrage: Geht in einer homophoben Person etwas ähnliches vor? Sieht er/sie bei einer queeren Personen auch einen Säbelzahntiger?

Immerhin gehört die Homophobie zur Xenophobie (Die Angst vor dem Fremden)

Heißt das, hier stehen Urinstinkt und Urangst im Konflikt? Sind beide nicht tief in unserer DNA verankert? Sind wir also darauf "programmiert" ständig aufs Neue uns vor dem Fremden zu fürchten und dann zu flüchten oder zu kämpfen?

Keine Ahnung, ob ich schon zu sehr ins Philosophieren abgedriftet bin, aber der Gedankengang verheißt auf den ersten Blick keine berauschende Zukunft. Und nun stelle man sich vor, dass solche Gedanken, nur kindlicher verpackt, in einem Jugendlichen herumschwirren. Als Kind denkt man nicht an morgen - man lebt im Hier und Jetzt. Und darum glaube ich, helfen Phrasen wie "du musst dich einfach trauen" oder "wenn es mal draußen ist, wird es leichter" oder "nur wenn wir zu uns stehen, können wir Veränderung bewirken" in diesen jungen Jahren kein bisschen. Man will JETZT frei sein, man will SOFORT glücklich sein. Darum entscheiden viele, lieber "im Schrank" zu bleiben, bis man erwachsen ist und es leichter fällt das JETZT und SOFORT in die Zukunft zu schieben. 1:0 für die Homophobie.

Ich will diesen Beitrag aber mit einem positiven Gefühl abschließen. Ja, die Ängste auf beiden Seiten werden vermutlich immer da sein. Trotzdem gibt es nicht nur Hoffnung sondern tatsächliche Veränderung! Alleine die Existenz dieses Forums zeigt das. Und vor allem, dass ein geoutetes Leben heutzutage sehr wohl möglich ist und völlig normal ablaufen kann.
Inzwischen können Faustschläge in respektvolles Händeschütteln umgewandelt werden. Die Stummen haben bereits eine Stimme erhalten und sie wird stetig lauter.

Ein Coming-out mag noch mit vielen anderen Ängsten verbunden sein. Sie alle kann man quasi zu einer persönlichen Homophobie oder der "Angst vor sich selbst" zusammenfassen. Zu sich selbst zu stehen kostet unglaublich viel Kraft. Und ich kann hier noch so große Sprüche tippen, ich weiß, dass ich in der echten Welt auch immer noch mehr schweige als dass ich für mich selbst einstehe. Ich erlebe aber auch, dass ich mit jedem noch so kleinen Schritt zu mir selbst ein Stück der Angst ablege.
Ich glaube fest daran: je weniger Angst wir vor uns selbst haben, desto eher haben die anderen weniger Angst vor uns.
Wir schaffen das. Schritt für Schritt.

P.s.: hierbei würden mich andere oder weitere Ansichten brennend interessieren - das Thema Homophobie ist sicherlich vielschichtiger und breiter, als ich in diesem Text angeschnitten habe.
Re: coming out von A bis Z
26. Dezember 2022 12:51
I wie Isolation

Hat sich da irgendein kosmisches Wesen gedacht: "Ha! Wäre es nicht total witzig, wenn ich einzelne Personen innerhalb einer Gesellschaft von der Norm abweichen lasse? Und wie wäre es, wenn ich das immer und immer und immer wieder so geschehen lasse? Haha, ich bin der ultimative Spaßvogel!"

Wie viele von uns kennen die Geschichte des Jungen/des Mädchens, das im Dorf aufwächst und (scheinbar) der/die einzige mit anderer sexuellen Orientierung/Identität ist? Es ist ein wiederkehrendes Thema. Jemand sollte mal der Natur Einsteins Definition von Wahnsinn erklären: "Wahnsinn ist: immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."

Es rennt jedes Mal gleich ab: Junge/Mädchen erkennt sein/ihr Anderssein, fühlt sich allein, hat Angst sich mitzuteilen. Meist lebt er/sie in einem Umfeld, in dem gleichgeschlechtliche/normabweichende Identität heutzutage vielleicht schon toleriert wird, aber "bitte in den privaten vier Wänden". Diese Toleranz wird von dem Jungen/Mädchen schnell als verborgene Intoleranz entlarvt. Das sich wiederholende Ergebnis: Ich muss mich verstecken - vor den anderen UND vor mir selbst.

Es ist wie ein Tauchgang. Jedes Mal, wenn ich in die Gesellschaft eintauche, halte ich den Atem an. Nur so überlebe ich unter Wasser - die Heimat, in der angeblich so viele Fische zu finden sind - wenn man nicht gerade als Landbewohner im Meer geboren wurde. Wir halten die Luft an. Jedes Mal ein bisschen länger, irgendwann fällt uns das Tauchen so leicht, dass wir nur mehr selten an Land müssen. Aber stoßen wir dann durch die Wasseroberfläche, schnappen wir gierig nach Luft, unsere Lungen schmerzen, unser Körper ist müde - wir können das Land gar nicht genießen, weil wir uns ausruhen müssen, da es schon bald wieder ins Nass geht!
Hätten wir doch nur mehr Zeit an Land, dann würden wir auch all die anderen Taucher sehen, wüssten, dass wir nicht alleine sind, denn unter Wasser sehen für uns alle verschwommen und gleich aus.

Gedanken entstehen in uns: "Warum bin ich so? Warum ausgerechnet ich? Warum bin ich alleine? Gibt es andere? Warum geben sie sich nicht zu erkennen?"

Wir ziehen uns in die Selbstisolation zurück. Wir meinen unseren Platz dort zu finden. Wir werden blind oder gefühllos oder lernen den Freund der Isolation kennen, die Depression.

Ja, das ist in der Tat Wahnsinn.

Schaffen wir es dann doch endlich aus dem Wasser zu kommen, dort zu bleiben und ein Leben als Landbewohner zu führen, fühlt man sich womöglich immer noch alleine. Am Ufer begegnet man zwar weiteren Tauchern, aber viele sind noch nicht bereit, ans Land zu ziehen. Und die anderen Landbewohner sind im Dschungel hinter dem Strand verstreut. Wann hört denn dieser Irrsinn auf? Wann kann ich endlich ich selbst unter meinesgleichen sein? Da gibt es Landbewohner, die trotzdem Ansichten aus dem Meer in sich tragen, dann gibt es Landbewohner, die neue Landbewohner nicht in ihre Gruppe lassen, weil man noch zu sehr nach Meersalz riecht. Andere sagen sogar: "Geh zurück ins Meer, du bist nicht so wie wir."
Irgendwann findet man sich wieder am Strand, mit der Frage: "Soll ich doch wieder untertauchen? Immerhin kenne ich mich unter Wasser aus."

Nein, ich gebe nicht auf! Ich habe noch andere Möglichkeiten: ich helfe den Tauchern - stelle bequeme Strandliegen auf, bestärke sie darin, dass sie gut so sind, wie sie geboren wurden. Ich schließe Freundschaften, vielleicht eröffne ich ja eine Strandbar? Die Taucher dürfen selbst entscheiden, wie lange sie bleiben. Manche werden es an Land irgendwann schöner finden, andere ziehen ebenfalls in den Dschungel. Auch ich werde dort alte Bekannte treffen und schließlich auch neue Bekanntschaften machen.

Ja, der Weg mag wahnsinnig wirken. Wahnsinnig anstrengend, wahnsinnig einsam, wahnsinnig traurig. Einfach nur wahnsinnig. Aber es ist nicht weniger wahnsinnig als als Landbewohner ständig ins Meer zu tauchen, und zu hoffen, dass man ohne Luftholen glücklich werden kann!

Isolation mag im Meer und an Land auf uns warten - doch wir bestimmen selbst, wie lange wir in ihr verweilen und wann wir sie verlassen.

Wir schaffen das.

Du schaffst das.

Wann immer du soweit bist.

Tauche auf.

Und: Luft holen.
Re: coming out von A bis Z
27. Dezember 2022 11:47
J wie Jungs

Nach längerem Hin und Her und der verzweifelten Suche nach einem anderen Wort, stelle ich mich nun doch diesem Thema.

Jungs.

Uff, ich bin sofort wieder 13 oder 14 und gehe in der Pause an der Nebenklasse vorbei. Ich beschleunige meinen Schritt. Stur weitergehen. „Heute nicht“, bete ich in Gedanken. „Bitte nicht! Bitte nicht! Bitte nicht!“
Geschafft, an der Türe vorbei!
Doch dann …
„Hallo, Schwuli!“
Ein eiskalter Schauer wandert meinen Rücken hinunter. Wut, Angst und Scham lassen meine Fäuste verkrampfen. Im Kopf schwirren mir unschöne Retourkutschen umher.
Ich bleibe stumm. Gehe einfach weiter. Hinter mir Gelächter.
Ich denke mir: „Ugh! Jungs!“

Solche und noch genügend andere Situationen sind es, die mich nicht begreifen lassen, warum trotz Schikane und Spott dieses heimliche Interesse an Jungs in mir entstanden ist.
Meine positiven Erfahrungen mit Jungs, seien es Freundschaften oder neutrale Schulkollegen, unterliegen leider den negativen.
Warum also ein Interesse an Jungs? Warum reicht nicht das Interesse an Mädchen, mit denen ich wunderbar reden kann, deren Berührungen so zärtlich und angenehmen sind, deren Küsse Schmetterlinge in meinen Bauch zaubern und meine Knie weich werden lassen!
Warum, ja bitte WARUM reicht das nicht aus?!?!?!

Damals hat mich das so sehr verwirrt und erschreckt, dass ich es aus Schutz (wie so viele andere) verdrängt habe.
Wer denkt schon als Teenager, dass doofe Jungs ebenfalls Emotionen haben und diese vermutlich so sehr vernachlässigt wurden, dass sie ihren Selbstwert durch das Schikanieren von anderen zu kompensieren versuchen?

Ich habe also verdrängt und zwar mit vollem Körpereinsatz! Ich entschied mich für eine höherbildende Schule, in die 99% Mädchen gingen, kappte alle männlichen Freundschaften - Adieu, jene Jungs, die immer nett zu mir oder sogar sehr gute Freunde waren.

Wie herrlich das war! Wie frei ich mich plötzlich fühlte! Umgeben von Mädchen, ohne rüpelhaftem Testosteron! Keine blöden Sprüche! Zickenkriege, ja, aber die haben mich nie betroffen. Ich war der Hahn im Korb und war auch eine kleine Besonderheit, weil auch ich kein doofer Junge war, sondern mit meinen Klassenkameradinnen sehr respektvoll umging. Ich erlebte sogar, wie es ist, beliebt zu sein und nutzte diese „Macht“ dann hinterrücks gegen den anderen Jungen aus unserer Klasse, der weniger gut aussah und nicht dieselbe Stellung unter den Mädchen hatte.
Oh ja, ich war richtig fies, ohne dass er es bemerkte - er glaubte sogar mit mir befreundet zu sein.

Da war ich also ein paar Jahre später - 15 oder 16 - und plötzlich nicht besser als die Jungs vor denen ich geflohen bin …

Heute ist dieser eine Junge wirklich ein guter Freund von mir. Der einzige Junge, den ich in meinen Freundeskreis gelassen habe, weil er Ähnliches durchgemacht hat. Nur dass er sich seiner heterosexuellen Orientierung immer sicher war, weshalb ich dennoch eine gewisse Distanz zu ihm wahre. Von meiner bisexuellen Neigung weiß er nichts. Vermutlich auch, weil ich mich fürchte, dass er dann vor mir flieht?

Ach, Jungs …
Egal, ob wir schwul, bi, hetero, divers sind, eigentlich sind wir alle unsicher, verängstigt und verkorkst, weil die Gesellschaft es seit Jahrhunderten schafft, uns in ein und dieselbe Rolle zu zwängen.
Re: coming out von A bis Z
28. Dezember 2022 13:02
K wie Küssen

Man träumt davon, sieht es in Filmen, liest davon in Büchern und …

Moment, das ist ein Forum für Leute ab 30 - die meisten wissen vermutlich, was Küssen ist, wie es geht, wie es sich anfühlt, etc.

Warum beschäftigt es mich dann trotzdem?

Wenn es ums Küssen von Frauen geht, kenne ich mich aus, habe genug Erfahrung und fühle mich meinem Alter entsprechend.

Kommen wir zum Küssen von Männern - worin ich absolut unerfahren bin …

Plötzlich bin ich nicht mehr 31 sondern 13. Alles fühlt sich neu an. Ich kichere hinter vorgehaltener Hand; werde rot, wenn ich es sehe; denke mir „bin ich dafür schon bereit?“

Außerdem kommt immer die eine seltsame Frage in mir auf:
Wie fühlt es sich an, jemanden mit Bart zu küssen? Egal ob nur Stoppeln oder Vollbart. Sticht es, kitzelt es, kratzt es? Und nervt/gefällt mir das?
(Liebe Bartträger, das sind nur absurde Fragen eines verwirrten Mannes, bitte nicht diskriminiert fühlen! Ihr seid toll :-) )

Diese Frage irritiert mich derart, weil ich mir zuvor nie Gedanken darum machen musste.

Generell ist da diese Ungewissheit, ob Küsse zwischen gleichgeschlechtlichen Personen irgendwie „anders“ sind?

Oder mache ich mir da einen zu großen Kopf? Sollte ich da einfach nach dem Motto vorgehen: Probieren geht über Studieren?

Bin ich der Einzige, der diese Ehrfurcht hat? Als Angst würde ich es nämlich nicht beschreiben. Die Neugier ist ja da und löst auch positive Aufregung in mir aus.

Oder hängt es mit meinem inneren Zwang nach Kontrolle zusammen? Wirft mich dieses Thema aus der Bahn, weil es etwas Unbekanntes ist, das ich im Vorhinein nicht durch Internetrecherche und Erzählungen „begreifen“ kann? Vom Lesen und Hören kann man sich zwar ein ungefähres Bild verschaffen, aber das tatsächliche Gefühl kennt man erst, wenn man es selbst erlebt.

Ja, ich bin ganz klar wieder 13, weil es andere einfach tun, nur ich nicht … ich zerdenke es - in der Hoffnung, dass es dadurch einfacher oder klarer für mich wird.

Vermutlich beschäftigt mich das auch deshalb, weil ich geglaubt habe, dass ich sämtliche „Ersten Male“ bereits erleben durfte und plötzlich tauchen neue, ungeahnte Möglichkeiten auf.

Es bleibt spannend :-)
Re: coming out von A bis Z
29. Dezember 2022 11:42
L wie Leugnen

Natürlich muss das hier angeführt werden!
Vor unserem Coming-out machen wir doch nichts anderes als zu leugnen.

Wir leugnen Vermutungen (Bist du schwul? - Nein, sicher nicht).
Wir leugnen Fantasien (Ich bin sicher nur verwirrt).
Wir leugnen tatsächliche Gegebenheiten (Nackte Männer erregen mich).
Wir leugnen so ziemlich alles an uns und alles, was von außerhalb kommt.

Das Leugnen ist wie ein Schutzschild. Irgendwann sind wir so resistent wie Superman. Alles prallt an uns ab.
Tja, aber innerlich brodelt es. Es drückt von Innen gegen das Schutzschild. Wie viel Leugnen hält es wirklich noch stand, wenn es von beiden Seiten kommt?

Je länger wir leugnen, desto mehr fühlt es sich irgendwann wie unsere Wahrheit. Aber eine Wahrheit mit bitterem Beigeschmack. Okay, manch einer würde es auch Lüge nennen. Aber wenn man aus Angst an einer Lüge festhält, wünscht man sich dann nicht, dass sie eigentlich die Wahrheit wäre. Nämlich: Ich bin sicher nicht schwul/bi/lesbisch/trans/inter/asexuell/+! Ich KANN es nicht sein! Ich DARF es nicht sein! DAS GEHT NICHT!!!

Es heißt, Lügen gehen einem leichter von den Lippen als die Wahrheit. Und wir leugnen zuerst IMMER aus Selbstschutz. Das geht eine Weile gut. Bis der Selbstschutz zur eigenen Gefahr wird ...


------------

So, ab jetzt ist die Ordnung wieder hergestellt! Die Buchstaben F-L sind nachgetragen worden. Es geht weiter mit Q !

Mal schauen, ob ich dazu was beitrage oder ob dann wieder jemand anderes weitermacht? :-)
Re: coming out von A bis Z
31. Dezember 2022 09:44
Q wie Queer

Wenn es im Deutschen eine Bezeichnung gibt, die noch kaum negativ behaftet ist, dann das Wort "Queer".

Mir geht es leichter von den Lippen als "schwul", "lesbisch" oder "bisexuell" und trotzdem verwende ich es sehr selten, wenn ich von mir schreibe.
Es wird zudem als allgemeine Bezeichnung für Personen verwendet, die sich innerhalb der LGBTQIA+ Community wiederfinden.
Vielleicht gerade weil es ein Begriff mit so viel Interpretationsspielraum ist, nutzen es Leute, um sich zu beschreiben. Man muss sich nicht gleich in eine Schublade stecken.
Ich habe aber auch schon gehört, dass z.B. die Bezeichnungen "schwul" und "lesbisch" von der Community wieder zurückerobert werden. Lange genug waren diese Wörter negativ behaftet und jetzt ist es Zeit, den homophoben und intoleranten Menschen diese Wörter aus den Händen (oder Mündern) zu reißen. (Aber hoffentlich auf friedliche Art!)

Zurück zu unserem eigentlichen Wort.

Wie viele haben schon mal den Begriff "Genderqueer" gehört?
Hier eine Definition aus dem Internet: "Personen, die sich als weder/noch identifizieren, oder als beides oder als Kombination von Mann und Frau."

Ich weiß, es gibt einige, die sich denken "Schon wieder ein neuer Begriff?". Andere bestehen vielleicht gar darauf, dass es nur Mann und Frau gibt.

Ich wiederum find es total spannend, dass es heutzutage schon so viele sexuelle Orientierungen und Identitäten gibt! Das nenne ich mal richtige Inklusion. Wirken manche Begriffe und Beschreibungen vielleicht seltsam, ulkig, absurd? Und wenn schon! Für mindestens eine Person bedeuten sie nämlich, dass ihr Innerstes gesehen und anerkannt wird. Und ist das nicht schlussendlich das, was jeder für sich selbst wünscht?
Ich sage also, immer her mit den Buchstaben, Gendervariationen und Identitäten. Vielfalt braucht es in der Natur, um ein gesundes Ökosystem zu erhalten. Vielleicht geht es unserer Welt ja schon so lange schlecht, weil es zu wenig Vielfalt in der Menschheit gibt? Oder zu wenig Vielfalt zugelassen wurde.

Wir sind also alle queer und doch ist jeder nochmal für sich einzigartig.

Hat das nicht etwas Beruhigendes? :-)
Re: coming out von A bis Z
31. Dezember 2022 11:54
Hallo BlueHoodie,

an Q wie Queer hatte ich schon gedacht. In meinen Überlegungen viel mir meine Definition wieder ein, als ich auf der Suche war, wer und was ich bin. Ich bin halt anders anders, und das macht mich, wie jeden anderen Menschen, einzigartig. Du hast es geschrieben, die Vielfalt der Natur zulassen und leben.

Ganz lieben Dank für deine Buchstabeninterpretationen. Gut das Du hierher gefunden hast.

GLG Maks
Re: coming out von A bis Z
01. Januar 2023 10:07
R wie Religion

Ich glaube es ist eines der Themen, das am meisten spaltet, in dessen Namen grauenvolle Ungerechtigkeiten geschehen sind und immer noch geschehen, dem man aber auch nicht entkommt, wenn man selbst gläubig ist: was ist denn nun richtig, warum soll das nicht sein dürfen, warum empfinde ich so, wenn mein Schöpfer das doch angeblich hasst?

Ich war jahrelang bei den Evangelikalen, ich hab meine Gemeinde und die Menschen dort geliebt, hab mich selbst dort mit Herzblut eingebracht und landete dann eines Abends auf einer Gebetsveranstaltung, auf der Gott angefleht wurde, die „Schwulenehe“ doch bitte irgendwie zu verhindern, als dieses Gesetz kurz vor der Verabschiedung war. Ich habe vieles aus dieser Zeit vergessen, aber diese absurde Situation werde ich nie vergessen. Die Menschen, die mir so wichtig waren, fuhren plötzlich Geschütze auf, argumentierten mit ihrer zusammengedichteten „bibeltreuen“ Logik und mir wurde eines zum ersten Mal richtig bewusst: wieviel Angst in diesen Menschen steckt, Gott zu enttäuschen, sodass sie blind werden und das Gebot der Liebe mit Füßen treten. Und welche Gefahr von solcher Eifererei ausgeht.

Wie wohl tat dagegen der Vortrag „Die schwule Frage“ von Siegfried Zimmer auf worthaus.de, der dieses Thema theologisch ganz anders angeht und zu dem wohlwollenden Schluss kommt: „Schämt euch“ - an alle diese Menschen, die vor blinder Angst, Gott nicht zu gefallen, anderen Menschen solches Leid antun.

Wie tief trifft mich das Buch oder der Film „Boy Erased“, wo ein schwuler Jugendlicher eine Konversionstherapie durchlebt, weil er davon überzeugt ist, falsch zu sein, diesen Schwachsinn aber ziemlich schnell durchschaut und trotzdem nicht bereit ist, seinen bibeltreuen Vater zu hassen, obwohl das die vermeintlich einfachere Lösung ist.

Wie sehr hat mich das Buch „Das dritte Leben“ des schwulen Pfarrers Wolf Bruske bewegt, der darin schreibt: „Warum half der Herr mir nicht? Warum heilte er mich nicht? Heute weiß ich warum: weil an mir alles in Ordnung war.“

Ich bin nun mit 44 Jahren einer der Spätzünder hier. Aber auch ich bin der Überzeugung: Gott hat mich so geschaffen und wollte, dass ich so bin, wie ich bin. Er ist nicht mein Feind, der sadistischen Spaß daran hat, mich leiden und scheitern zu sehen.

Ich will mit diesem Beitrag schon ein Zeichen setzen, dass sich Glaube und Nicht-Heterosexualität nicht ausschließen. Ich muss vielmehr sagen: ohne meinen Glauben wäre ich an meinem Weg zerbrochen.

Euch allen ein frohes Neues Jahr! Jesus sagte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, deshalb: feiert euch und eure Einzigartigkeit!

Pascal



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 01.01.23 13:01.
Re: coming out von A bis Z
02. Januar 2023 10:40
Hallo Pascal und alle zusammen,
zunächst mal ein gutes neues Jahr mit Gesundheit, viel Kraft und Mut, aber auch Gelassenheit und einer guten "Reifezeit" für anstehende Prozesse oder Entscheidungen.
Ja, das Thema Religion und Sexualität ist ein sehr spannendes. Das betrifft ja nicht nur die christlichen Religionen. Die Gemeinsamkeit mit dem Islam für die Verteufelung der gleichgeschlechtlichen Liebe liegt ja in folgender Darstellung begründet: das Volk Lots drohte, die Gäste Lots zu vergewaltigen. (vereinfachte Wiedergabe aus dem Alten Testament und dem Koran)
Hierbei ging es aber nicht um gleichgeschlechtliche Liebe oder Sexualität, sondern um Gewaltexzesse. Und diese sind unabhängig, ob sie mit Sexualität in Verbindung gebracht werden oder dem alltäglichen Miteinander der Menschen, sowohl in der Religion, als auch in der Ethik, verwerflich.
Sieht man einmal von so manchem fragwürdigen Verhalten und Gebaren bei den Datingplattformen ab, ist Sexualität doch ein Gewinn für die Menschheit.
Die Gründe, warum sie so negativ besetzt wurde, das betraf ja besonders in der katholischen Kirche auch die Sexualität zwischen Mann und Frau, die, ähnlich wie im Tierreich, nur auf Zeugung ausgelegt wurde, will ich gar nicht näher erforschen. Das wäre mir zuviel Verschwendung wertvoller Zeit.
Nicht unberücksichtigt lassen sollte man aber, dass die Kirchenlehrer und -führer ja eine reine Männergesellschaft war und wie diese sich in der Praxis verhalten hat, wurde uns vor allem in der katholischen Kirche, aufgezeigt.
Meine Kindheit und Jugendzeit war auch sehr von der traditionellen Kirchenlehre geprägt und es ist mir im Gedächtnis eingebrannt, dass Homosexualität als Todsünde galt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn viele religiöse Jugendliche und Männer da verzweifelt sind, seelischen Schaden genommen, oder sogar Selbstmord begangen haben.
Ich durfte andere Erfahrungen machen, die mir einen stärkenden Glauben, durchaus äußerst kritisch mit so manchen Kirchenlehren, aber dennoch nicht außerhalb der Kirche, geschenkt haben.
Ich bin mir in meinem Glauben da auch absolut sicher, dass eine wertschätzende, liebevolle, partnerschaftliche Sexualität ein wundervolles Geschenk ist, das wir erhalten haben. Es kommt nur darauf an, was wir daraus machen. Und da werden wir uns vielleicht mit unserem Leben insgesamt einmal "erklären" müssen. Mit diesem Glauben können wir unser Handeln ja auch schon zu Lebzeiten reflektieren und uns entschuldigen, wo wir Schmerzen bereitet haben, sowie versuchen, Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen. So lebt es sich richtig entspannt und auch ohne schlechtes Gewissen, mit einer Frau und einem Freund ein harmonisches Leben zu führen.
In diesem Sinne, genießt das Jahr 2023 und eine schöne Sexualität

Liebe Grüße
Tom
Re: coming out von A bis Z
04. Januar 2023 17:02
S wie Stereotyp

Okay, ich habe in meiner Geschichte erzählt, dass ich keine Verbindung zur queeren Community habe. Das war nur halbrichtig. Seit über einem Jahr kenne ich zwei queere Personen (schwul und lesbisch), die ich in einem Workshop (zusammen mit anderen nicht-queeren Leuten) kennengelernt habe. Unter uns ergab sich eine kleine Freundschaft und man sieht sich meistens 1x pro Monat. Ja, er war recht offensichtlich schwul, bei ihr habe ich erst später erfahren, dass sie lesbisch ist.

Aber die beiden haben nichts mit dem Wort "Stereotyp" zutun. Nein, das beziehe ich auf mich.

Ich habe vor meinen neuen queeren Freunden nämlich Angst, mich zu outen, weil ich nicht möchte, dass sie in mir den Stereotyp "Verheiratet, Vater und heimlich bisexuell" sehen. Und schon gar nicht will ich als Stereotyp "bisexuell = schwul, aber Angst davor" abgestempelt werden.
Ich habe die Sorge, dass ich mir den Mund fusselig reden könnte und dennoch würden sie mir ungläubige Blicke zuwerfen oder hinter meinem Rücken kichern, weil sie nur die Stereotypen sehen.

Das bedeutet also, ich habe Angst mich in der Hetero-Welt zu outen und jetzt auch in der queeren Welt. Somit bin ich doppelt verunsichert.

Aber warum habe ich solche Angst davor stereotypiert zu werden?
Ist es nicht die Realität, dass ich verheiratet, Vater und bisexuell bin? Das habe ich mir ja nicht ausgedacht.
Womöglich beruht meine Angst doch mehr darauf, nicht akzeptiert und respektiert zu werden ...

Einem Stereotyp zugeordnet zu werden, wirkt so endgültig. Es lässt keine Veränderung zu.

Ich habe aber die Vermutung, wenn ich erst mal mit mir vollkommen im Reinen bin und mich selbst akzeptiere und respektiere, dass es mir egal sein kann, wer mir welchen Stereotyp-Hut aufsetzen will.
Schön, dass ich es theoretisch schon mal weiß - die praktische Umsetzung ist ja das eigentlich schwere.

Aber auch das wird mir gelingen.
Denn ich bin verheiratet, Vater und bisexuell.
Das könnte ich ja zum Beispiel auch als Stärken sehen und nicht als Stereotypen smiling smiley
Re: coming out von A bis Z
24. Dezember 2023 08:22
T wie Todesangst

Ich habe sie am eigenen Leib gespürt, diese Angst. Die Angst, das etwas Furchtbares passiert, wenn ich mich oute; wenn ich zu mir stehe.

Wie könnten meine Eltern reagieren? => Todesangst
Wie könnten meine Freunde reagieren? => Todesangst
Wie könnte die Welt reagieren? => Todesangst
Wie sieht mein Leben dann aus? => Todesangst

Wenn ich an diese Angst zurückdenke, war sie für mich real. So richtig, richtig, richtig real. Mein Coming-Out würde definitiv meinen Tod bedeuten. Denn immerhin werfe ich damit mein ganzes Leben auf den Kopf. Als würde ich das Tischtuch wegziehen und das gesamte Geschirr liegt in Trümmern. Warum soll ich das machen? Ich hab das Geschirr doch so sorgfältig und bedacht aufgelegt, damit ja niemand den brüchigen Tisch unter dem Tuch bemerkt.

Irgendwann kam dann die Frage auf: was habe ich in meinem Leben erlebt, dass ich so eine Todesangst vor meinem wahren Ich habe?

Und hier beginnt das wahre Coming-out, wenn man dieser Frage nachgeht. Das Coming-Out deiner Todesangst. Du wühlst in deiner Vergangenheit, entdeckst Verhaltensmuster, die du dir zum Schutz angeeignet hast, um im wahrsten Sinne überleben zu können. ABER WOVOR HATTE ICH SOLCHE ANGST?!

Die Antwort ist, dass wir als Erwachsene versuchen wollen, Ängste zu verstehen, die wir meist schon in der Kindheit entwickelt haben und sich festgesetzt haben. Früher haben wir uns vor Schatten gefürchtet, heute können wir einen Schatten logisch erklären. Damals nicht. Vielleicht haben wir traumatische Unfälle gehabt oder aber es hat gereicht, dass ein Familienmitglied uns durch Worte, Gesichtsausdrücke oder Wutausbrüche immer wieder verängstigt hat, bis wir Methoden entwickelt haben, wegen dieser Angst buchstäblich nicht zu sterben. Meist unterdrücken wir unsere Emotionen, schlucken die Ängste wieder und wieder hinunter, in der Hoffnung, sie verschwindet. In Wahrheit häuft sie sich nur weiter in uns an. Und plötzlich fürchten wir uns nicht mehr vor den Wutausbrüchen einer einzigen Person, sondern von immer mehreren. Und somit schweben wir immer öfter in Lebensgefahr. Also lernen wir, wie wir diese Menschen beruhigen oder wie wir uns verhalten, damit sie gar nicht erst wütend werden. Wir schlucken weiter und weiter, Hautsache den anderen geht es gut.

Dann sind wir erwachsen. Anstatt fit fürs Leben zu sein, haben wir das Gespür für uns verloren und schleppen so viele Ängste mit uns, dass es bereits zur Normalität geworden ist. Wir sind Meister darin, auf Eierschalen zu laufen. Haben Bestnoten im "Entschuldigung" sagen und gewinnen nicht selten den Hauptpreis namens "Depression". YAY!

Solange wir also unsere kindlichen Ängste rationalisieren, werden wir nicht weiterkommen. Wir müssten in die Zeit zurückreisen, wieder ins kindliche Ich zurück, um zu verstehen, was damals passiert ist. Aber Zeitreisen sind nicht möglich - dann können wir es ja gleich sein lassen, nicht wahr? Unglücklich zu sein ist für uns nicht fremd. Es ist sogar bequem, weil wir genau wissen, wie wir uns in diesem System des Unglücks, des Verstellens, des Fürchtens verhalten müssen.

Es gibt Wege, zu seinem inneren Kind oder Teenager zu kommen. Sie stecken weiterhin in dir. Vermutlich sind sie auch ein Teil dieser Todesangst. Immerhin haben alle weiteren Ängste auf ihren aufgebaut. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. ABER wir können das Kind in uns JEDERZEIT in den Arm nehmen. Denn, es ist ja ein Teil von uns. Wir können ihm die Sicherheit geben, die wir früher nicht hatten. Dazu müssen wir aber zuerst begreifen: WIR SCHWEBEN NICHT IN LEBENSGEFAHR!

Wenn unsere Eltern/Freunde/etc. negativ reagieren, STERBEN WIR NICHT! Wir haben bloß keine gesunden Strategien, mit deren Wut/Trauer/Enttäuschung umzugehen. Denn wir haben uns ja ein Leben lang eingeredet, dass WIR für DEREN Emotionen zuständig sind. Aber wer war für unsere Emotionen zuständig?

Die schwierigste Erkenntnis ist: es wird uns niemand von außen retten. Das ist auch nicht die Aufgabe von anderen. Sie können zwar einen wohltuenden Rahmen schaffen und Hilfe anbieten, aber die harte Arbeit müssen trotzdem wir selbst leisten. Wir haben alle die nötige Stärke in uns. Je größer die Angst, desto kleiner wirkt diese Stärke. In Wahrheit ist diese Stärke in uns unendlich groß und zu allem fähig!

Solange du dich deiner Todesangst nicht stellst und sie zu ihrem Coming-out zwingst, wird auch dein eigenes Coming-out wie eine Atlas-Aufgabe wirken.

Ich bin voller Hoffnung, dass jede*r seine/ihre innere Stärke findet. Nur Mut smiling smiley
Re: coming out von A bis Z
28. Dezember 2023 05:31
Lieber BlueHoodie,
was du schreibst, habe ich in sehr ähnlicher Weise erlebt. Ich kann mich noch heute an den Moment erinnern, als ich meiner Frau sagte, dass ich auch für Männer starke Gefühle habe. Ich konnte es kaum in Worte fassen und dachte wirklich die Welt bleibt stehen in diesem Moment. Diese bis dahin so abstrakte Angst war plötzlich völlig real.

Es wäre zu dem Coming Out vor meiner Frau nicht gekommen, wenn nicht zuvor bereits einiges in Gang gesetzt worden wäre. Es waren zwei Schlüsselereignisse.

Zum einen das Outing gegenüber meinem besten Freund, einige Monate davor. Da hatte ich diese Todesangst nicht, es war mehr eine generelle Unsicherheit. Er hat mich später sehr stark unterstützt, den Schritt zu wagen, es meiner Frau zu sagen und mich dieser Angst zu stellen.

Zum andern eine Zeile in dem Lied „Kraniche“ von Bosse, lange vor dem ersten Schritt, zufällig im Urlaub beim Autofahren gehört: „Was ich gelernt hab, ist entspannt zu bleiben, kommt alles auf den Tisch, wenn die Zeit gekommen ist“. In dem Moment stand diese Angst plötzlich vor mir und ich hatte eine der ersten Panikattacken wegen dem ganzen Mist. Mein damaliger Gedanke war: „Um Gottes Willen, das darf niemals passieren.“ Ich weiß sogar heute noch, wo das damals war, auf welcher Strecke ich gerade fuhr.

Und doch kam es genau so, nur einige Jahre später. Es gibt einige Lieder, die mich auf dem Weg bis hierhin begleitet haben. Vielleicht etwas klischeehaft manchmal, zum Beispiel, als ich zum ersten Mal wirklich verstand, worum es in „Ich bin ich“ von Rosenstolz wirklich geht - auch das damals beim Autofahren mit einem ich glaub zehnminütigen Heulkrampf auf der nächsten Raststätte.

Heute kann ich es tatsächlich so sagen: „was ich gelernt hab, ist entspannt zu bleiben, kommt alles auf den Tisch, wenn die Zeit gekommen ist“. Als diese Tonnenlast erst einmal von mir abgefallen war, als es endlich „raus“ war, setzen sich viele Dinge in Bewegung, die ich nicht erwartet hätte. Sehr viel Positives, natürlich auch Negatives - doch das Positive überwiegt deutlich. Die Beziehung zu meiner Frau war eine Achterbahnfahrt für uns beide (bestens beschrieben in dem Beitrag „Achterbahn des Lebens“ hier im Forum von BiSenior), vieles in der Beziehung musste und muss immer noch neu ausgehandelt werden, aber: wir sind immer noch zusammen und gehen den Weg gemeinsam als unseren Weg, der unsere Beziehung besonders macht.

Und damit will ich auch sagen: ein Outing in der Beziehung muss nicht automatisch das Ende sein. Wichtig sind mir zwei Einsichten, um auf das Lied zurückzukommen: „entspannt“ zu bleiben davor (sich nicht von Gedanken und Ängsten zerfressen zu lassen) und auch danach. Vor allem auch danach nicht, wenn der ganze Druck „jetzt endlich loszulegen und alles nachzuholen“ fast unermesslich groß wird. Auch das kann eine Art „Todesangst“ sein: Verpasstes irgendwie nachholen zu wollen.

Ich habe nun mehrere Wochen und Monate hinter mir, in denen die Gefahr des Bereuens eines gefühlten Verpasst-Habens sehr real war (trotz einer sehr starken Beziehung zu meiner Frau - das gehört zum bi-sein wohl trotzdem dazu). Dieses Bereuen, es nicht früher „durchgezogen“ zu haben, hängt dann aber doch zu sehr an mir selbst. Auch hier die Einsicht: es wäre in einem Scherbenhaufen geendet, weil ich dazu offenbar noch nicht reif genug war.

Vielleicht bin ich nicht das repräsentative Beispiel mit diesen Erfahrungen und Sichtweisen. Das will ich auch gar nicht sein. Aber denen, die gefühlt irgendwie zwischen dem allen hängen und die sich nicht damit abfinden wollen, dass ein Outing gleichzeitig das komplette Ende des bisherigen Lebens sein muss, will ich Hoffnung geben. Entspannt euch, (davor und auch danach), es kommt alles auf den Tisch, wenn die Zeit gekommen ist.



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 28.12.23 05:38.
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