Ja, das Thema "Schwul" und auch "Lesbisch" ist sicher noch nicht ganz in der Gesellschaft angekommen, wenngleich sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten ganz sicher sehr (!) viel getan hat. Mein Eindruck ist, daß man Lesben und Schwule schon stärker in der Gesellschaft sieht als früher. Zu meiner Schulzeit war dieses Thema kaum präsent, ich KANNTE keine Schwule (bzw. wußte nicht, daß sie schwul waren), in der Schule wurde nicht darüber geredet, es war kein oder kaum ein Thema im Unterricht. Und wenn ich Schwule wahrnahm, dann waren es schräge Typen, zu denen ich nicht gehören wollte.
Ein wenig selbstverständlicher ist es nun vielleicht schon geworden, man nimmt eher mal Schwule wahr, auch wenn man nicht in speziellen Kneipen o.ä. ist. Und da man mehr sieht, sind sie auch vielfältiger. Es ist nicht mehr nur der Tuntige, sondern vielleicht auch der Jurastudent, der Politiker, der Schauspieler oder einfach nur der Kollege im Laden. Das ist sicher anders als früher, als man nur hinter vorgehaltener Hand über "solche Leute" sprach.
Mir fallen aber auch gegenüber früher (ich rede von den 80ern) andere Veränderungen auf: umarmen sich nicht ohnehin inzwischen auch sehr viel mehr Heteromänner? Ich kannte das zur Schulzeit gar nicht, ich merke das auch, wenn ich heute alte Klassenkameraden sehe, daß man sowas nicht macht. Aber ich sehe, wenn ich heutige 20jährige beobachte, viel mehr Jungs und Männer, die sich umarmen oder zumindest irgendwelche sehr speziellen "Begrüßungsrituale" durchziehen. Nicht alle, aber sehr viel mehr als vor zwanzig Jahren. Das hat nichts mit schwul zu tun, fällt mir nur teilweise auf.
Ab die Gesellschaft deswegen toleranter ist, weiß ich nicht. Ich glaube, es ist derzeit chic, "tolerant" zu sein. Man "hat nichts gegen Schwule", weil das uncool ist. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, daß das zwar bei vielen Menschen so eingeritzt ist, sie aber mit dem Kopf noch nicht nachgekommen sind, weil es dennoch so viele Fragen, Unsicherheiten und Ängste gibt. Ich meine schon, daß viele Heteros noch immer Angst haben vor "diesen Leuten" und nicht wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Oder daß sie Schwule noch immer nicht "mögen". Aber es gehört sich nicht mehr, schwulenfeindlich zu sein. Gleichzeitig aber benehmen sich immer mehr Schwule ganz selbstverständlich, leben schwul, auch in der Öffentlichkeit (was ja gut ist). Ich sorge mich nur, daß sich hier allmählich zwei unterschiedliche Seiten aufbauen: hier die offen Lebenden Schwulen, die das immer selbstverständlicher nehmen, dort die verunsicherten Heteros, die nicht wissen, wie damit umzugehen ist. Ich fürchte manchmal, es könne sich da etwas Frust und dann auch Verärgerung bis hin zu "Hass" aufbauen, der sich irgendwann entladen könnte, wenn die Umwelt für solche Leute "zu schwul" geworden ist. Oder wenn man auf Gleichgesinnte trifft.
Ist nur eine Sorge von mir, muss nicht so sein. Aber ich fühle mich als Schwuler, bei aller Offenheit und (scheinbarer oder tatsächlicher) Toleranz, noch nicht sicher in der Gesellschaft.
Was mir aber auffällt, wenn ich mit Jüngeren unterwegs bin, daß sie schon zu Schul- und Studentenzeiten sehr viel offener sind, zumindest in vielen Bereichen scheint sich da viel getan zu haben. Und wenn Heteros immer öfters gute Freunde und Bekannte haben, die eben schwul sind, baut das auch Ängste ab. Denn man kennt ja "Einen", und "der ist o.k." Zumindest höre ich das oft von Hetero-Bekannten. Ganz sicher tut sich hier schon etwas, aber wir sind sicher noch nicht am Ziel, aber schon ein ganzes Stück von der Startlinie weg. Das ist ja auch schon was.
Ein Aspekt ist aber natürlich auch, daß für uns "Schwule" dieses Thema natürlich sehr wichtig und elementar ist, für Heteros ohne Bezug dazu ist es nur ein Thema, nicht DAS Thema. Ohne direkten Bezug gint es eben auch andere Themen, auch andere Personengruppen, gegen die es womöglich auch Vorbehalte gibt: Ausländer, Hartz4-Empfänger, Obdachlose, Personen mit Behinderungen etc. etc. Alles auch Leute, die auf Toleranz angewiesen sind und ich mag da nicht werten, wer sie nötiger braucht. Sind die für nichtbetroffene Heteros noch ebensowenig oder ebensoviel wichtig?
Ein letzter Aspekt, der mir noch dazu einfällt, ist, daß viele Heteros vielleicht nach wie vor Angst haben, selbst als schwul zu gelten. Vielleicht gehe ich als Hetero nicht zu einem Vortrag über Schwule, weil ich vor der Frage anderer Angst habe, WESHALB ich gerade dorthin gehe? Ich erlebe bei toleranten Heteros oft, daß sie sich dennoch sehr an ihre Freundinnen und Frauen klammern, wenn es ihnen allzu "schwul" wird. Ich glaube, in den Köpfen sind da noch viele Ängste. Und gäbe es die nicht, dann bräuchten wir wohl auch oft keine Jahre oder Jahrzehnte, um uns zu outen. Denn wir selbst hatten oder haben ja diese gesellschaftlichen Vorurteile auch in unseren Köpfen. Und ich habe auch bei Geouteten manchmal das Gefühl, daß sie nur schwul sind, weil sie es eben "müssen". Wie oft lese ich von Konstellationen, da wird fast verzweifelt an der Beziehung zu einer oder der Frau festgehalten, und ab und an "reagiert" man sich bei einem Mann ab. Hier ist ja der andere Mann oft auch noch nicht als gleichwertiger Partner über den Sex hinaus in den Köpfen angekommen. Oft ist der (Sex)Partner eigentlich nur "die Geliebte", irgendwie nicht mehr. Ich sage bewußt "oft", denn natürlich gibt es "richtige" Beziehungen, aber oben genanntes Phänomen lese ich sehr sehr oft. Die Gesellschaft hat also nach wie vor bei Vielen feste Bilder in den Köpfen verankert, wie man leben soll. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gehören oft noch nicht dazu.
Ich denke oft über all' das nach, und irgendwann habe ich mich gefragt, was würde ich machen, wenn eine gute Fee in mein Leben träte? Und sie würde mir einen Wunsch erfüllen wollen und frägt: "Soll ich Dich hetero machen?" Ich glaube, noch vor zwanzig Jahren hätte ich JA gesagt. Heute würde ich NEIN sagen. Denn zu meiner Persönlichkeit gehört es dazu, daß ich auf Männer stehe. Aber der Weg zu dieser Antwort war auch für mich lange.
Poar, sorry, habe mal wieder lange geschaffelt ... Was man alles schreibt, wenn man mal anfängt.
Liebe Grüße,
Mickey2.