Meine Geschichte
Ausgehend von meinem aktuellen Coming-out ein Lebens-Rückblick, sehr persönliche Gedanken, einschneidende und prägende Lebensereignisse, um zu verstehen, wie ich bin so wie ich bin.
Aufgewachsen in einer bäuerlichen Familiensituation mit nicht einfachen Konstellationen (z.B. mein ältester Bruder wuchs nicht zusammen mit meinem jüngeren Bruder und mir auf), verstarb meine Mutter als ich 13 Jahre alt war. Es folgte eine sehr schwierige Zeit für mich in der ich sehr früh Verantwortung übernahm für meinen Vater, der schwere Depressionen nach dem Tod unserer Mutter hatte. Hier waren keine Zeit und kein Raum sich mit der eigenen Pubertät, sexuellen Orientierung und Identität auseinanderzusetzen; irgendwie war das ganze kein Thema, außer sich selbst zu befriedigen und dies immer mit Gedanken es ist schlecht, sündig. Um dies zu verstehen muss man wissen, dass ich sehr durch die Erziehung meiner christlich-gläubigen Großmutter geprägt wurde.
So vergingen die weiteren Jahre, war in meiner heutigen Rückschau, der immer angepasste, eher schüchterne brave Junge, der irgendwie zum Mann wurde, machte mein Abitur, verweigerte den Kriegsdienst und leistete meinen Zivildienst in der Schwerstbehindertenbetreuung ab.
Dann folgte ein pädagogisches Studium für das Grund- und Hauptschullehramt in der unmittelbaren Großstadt nahe meines Heimatortes. Interesse an Beziehungen zu Frauen? Fehlanzeige oder gar ein gleichgeschlechtliches Interesse? Nicht denkbar auf dem Hintergrund meines christlichen Glaubens und der damaligen Zeit.
Mit fast 30 Jahren zeigte jedoch eine junge Frau ein unbändiges Interesse an mir, das habe ich zuvor so nicht erlebt -selbst war ich ja nie aktiv- Schmetterlinge im Bauch, unsere Beziehung vertiefte sich, wir verlobten uns, heirateten und schmiedeten gemeinsame Pläne für die Zukunft. Der Wunsch Kinder zu haben war sehr groß; nach mehreren Fehlgeburten, dann die Geburt unseres ersten Sohnes. Zwei Jahre später die Todgeburt unseres zweiten Sohnes. In diese schwere Zeit fiel auch meine erste berufliche Krise als Lehrer und führte dazu, dass ich ein sonderpädagogisches Aufbaustudium aufnahm und wir als kleine Familie in eine entfernte Großstadt zogen. In dieser Zeit wurde dann auch unser dritter Sohn geboren.
Das Internet hielt Einzug mit all seinen aufkommenden Möglichkeiten im damaligen World Wide Web und so auch das Interesse an Seiten mit pornografischen Bildern - Bildern von nackten Männern fanden mein Gefallen immer wieder einmal und dies auch in den folgenden Jahren.
Gab es das auch schon in jüngeren Jahren? Ja wenn ich zurückdenke, habe ich mir etwa im Alter von 16/17 Jahren heimlich das Playgirl-Magazin mit Bildern nackter Männer (eigentlich für Frauen gemacht😉) mit großem Interesse/Erregung? angesehen was mir möglich war, da ich im Schreibwarengeschäft meiner Tante derart aushalf, dass ich den Laden alleine schmiss, während diese sich im Skiurlaub befand. Oder das Interesse an Männerunterwäsche in den Warenhauskatalogen, wobei die im Bader-Katalog am erotischsten waren 😉.
Die folgenden Jahre waren geprägt von großem familiären und beruflichen Engagement mit der Aufnahme einer stellvertretenden Schulleitungsstelle.
Einschneidend war für mich dann der Suizid meines Vaters, zunehmende berufliche Belastungen und all das und noch mehr mündeten in einen Burnout mit anschließender Therapie und der Notwendigkeit selbstachtsam mein weiteres Leben zu gestalten und aktiv nach meinen Bedürfnissen zu schauen, immer sehr unterstützt dabei durch meine liebe Frau. So machte ich mit 50 Jahren den Motorradführerschein, kaufte mir ein Motorrad und genoss die dadurch gewonnene Freiheit.
Im Sommer fand ich Gefallen am Nacktbaden-FKK, liebte auch hier das Gefühl des Freiseins und entdeckte erneut mein Interesse am gleichen Geschlecht, ich schaute gerne nackte Männer an und ihnen nach. Meiner Frau hatte ich dies schon vor einigen Jahren anvertraut.
Seit vor etwa drei Jahren suchte ich im Sommer immer auch einen FKK-Bereich am Rhein auf, welcher von schwulen, bisexuellen Männern gerne besucht wird. Immer mehr fühlte ich mich hier ausgezogen angezogen, genoss und beobachtete das Geschehen, verstand nicht die Signale, die man mir sendete und merkte wie es mich erregte als ein Mann einmal direkt nackt vor mir stand, mehr passierte jedoch nicht, da ich einfach keine Reaktion zeigte und abwartete bis der Mann wieder ging.
Im letzten Sommer kam alles anders. Ich suchte einen abgeschiedenen Bereich am Rhein auf von dem ich wusste, dass dieser für mehr als nur FKK genutzt wird, um wieder nackt zu baden, lag am Wasser genoss das Freisein, bis sich mir ein Mann näherte und irgendwie musste kommen, was im Raum stand: Ich ließ mich das erste Mal überhaupt auf intime Handlungen mit einem Mann ein.
Den Moment genoss ich, empfand Nähe und eine Art von Vertrautheit, überhaupt kein sündhaftiges Empfinden und das auf dem Hintergrund als gläubiger Christ.
In der Rückschau darauf sehe ich es als ein „wissen-empfinden-wollen“ wie das sich mit einem Mann anfühlt. Ich staune über mich selbst. Ein Außenstehender, der mich näher kennt wird wohl sagen: „Das hätte ich nie von dir gedacht, dass du so etwas tust.“ (Anmerkung: Hier meldet sich der moralische Zeigefinger 😉).
Auf dem Nachhausweg mit meinem E-Bike schwirrten mir mit jedem Meter Entfernung vom Ort des Geschehens die Gedanken durch den Kopf mit einer ganz klaren Entscheidung ohne zu zögern: Ich muss sofort meiner geliebten Frau davon erzählen, ich kann und will ihr dies nicht verheimlichen.
Zuhause angekommen, sagte ich ihr gleich, dass ich ihr etwas mitteilen muss. Ihre Reaktion nur zu verständlich: Schock, Sprachlosigkeit, Tränen. Ein Gespräch war an diesem Abend nicht mehr möglich.
Am nächsten Morgen setzten wir uns zusammen und sprachen darüber; alles kam auf den Tisch, die auch bei mir aufgekommenen Ängste sich angesteckt zu haben, die Enttäuschung, die Verunsicherung, den Treuebruch, usw.
Ich telefonierte noch am gleichen Vormittag mit der Aidshilfe und bin sehr dankbar für das Gespräch mit einem Berater. Ich spreche über Sex mit anderen Männern, über Ansteckungsrisiken, aber auch über die Empfindungen. Auch noch an diesem Tag machte ich einen Termin bei der grünen Sprechstunde beim Staatlichen Gesundheitsamt für eine STI und HIV-Testung in Verantwortung für mich selbst und meine Frau, wobei ich merke, das macht mir nichts aus, ich stehe zu dem, was geschehen ist (Anmerkung: gut, dass es solche niederschwellige anonyme Angebote gibt, so wie auch dieses CO30 Forum).
Wir starteten wenige Tage darauf in unseren gemeinsamen Sommerurlaub ins Allgäu mit einem Wechselbad der Gefühle. Genießen die gemeinsame Zeit, halten gemeinsam Momente des Schweigens aus, suchen immer wieder das Gespräch und reden, reden immer wieder über uns und wie es nun weitergeht. Wir lesen gemeinsam ein Buch über Bisexualität (später auch noch das Buch: „Nicht mehr schweigen“ von Timo Platte), informieren uns über das Internet und suchen als gläubige Christen Möglichkeiten des Austausches mit anderen Betroffenen und nehmen Kontakt mit zwischenraum.net auf. Nach unserem Urlaub kam es dann schnell zu einem Kontakt und Video-Gespräch mit einem bisexuellen Christen, leider nur mit ihm und nicht auch mit seiner Frau, was gerade in dieser Situation für meine Frau eine große Hilfe gewesen wäre.
Und nun: Wir beide sind seit 30 Jahre glücklich miteinander verheiratet, spüren unsere gegenseitige tiefe Zuneigung und Verbundenheit und befinden uns aktuell in einem Prozess, der sich zwischen folgenden Polen wie meine Frau treffend formulierte bewegt: „Wir trennen uns“ (was wir beide nicht wollen) und „So-tun-als-wäre-nichts-gewesen“ (was wir beide nicht können). Wie gestaltet sich unsere Ehe, wie kann das (Ich stehe auf Männer) zusammenkommen in der Spannung in der wir auch als gläubige Christen stehen? Wir wissen es (noch) nicht.
Was mein inneres Coming-out angeht habe ich einen großen Frieden und weiß mich von Gott so angenommen wie ich bin, habe nie den Gedanken, da müsste etwas therapiert werden. Ich spüre, dass nun mit 60 Jahren etwas zur Ruhe kommen darf, in mein Leben integriert wird, was ich immer ausgeblendet oder tief in meiner Seele vergraben hatte, eben dass ich auf Männer stehe (nicht auf jeden natürlich 😉).
Dass ich diese Gedanken aufschreibe und auch veröffentliche ist Teil dieses Prozesses der Selbstannahme und Selbstliebe im Vertrauen darauf, dass ich/wir von IHM begleitet werden und ER mir/uns Menschen und Situationen an die Seite stellt, die mich/uns hierbei unterstützen, so wie ich es auch durch meine liebe Frau erfahre.
Soviel einmal zu meiner Geschichte. Ich freue mich auf Rückmeldungen und den Austausch mit euch und ermutige alle, die dies lesen und sich in einem ähnlichen Prozess befinden, der viel Kraft und Mut kostet, auf ihr Herz zu hören, darauf zu vertrauen, sich zu öffnen und anzuvertrauen, wobei DU allein selbst bestimmst wann, mit wem und wie. So werde ich es jedenfalls weiterhin tun.
Seid lieb gegrüßt!