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er? sie? beide? oder alles ganz anders?

geschrieben von Vraunai 
er? sie? beide? oder alles ganz anders?
09. Dezember 2022 19:04
Hallo, ihr Lieben!

Wie gerne hätte ich Rat von euch, und weiß doch, dass es keinen gibt. So schreibe ich zumindest mal, wo ich stehe und was mich beschäftig, und bin unheimlich dankbar um dieses Forum und eure offenen Beiträge, die mir das erleichtern.

Ich habe bald angefangen mit Sexualität, vor allem mit Burschen/Männern. Neben der sexuellen Neugier habe ich auch meine Sehnsucht nach Beziehung, Nähe, Körperkontakt so stillen wollen. Schon im Gym hatte ich auch eine Begegnung mit einer Klassenkollegin, einen Kuss, einmal gemeinsam duschen, das war unerwartet und schön, aber ich habs nicht ernst genommen und so ist nix draus geworden. Auch folgende sexuelle Erfahrungen mit Frauen habe ich nicht ernst genommen, ich hab mich als Hetero verstanden, mit ein bisschen Neugier. Alle diese Erfahrungen waren mit Frauen, die ebenso "eigentlich hetero, aber neugierig" waren, und sie waren schön, haben aber nicht mehr Sehnsucht in mir geweckt.

Aufgewachsen bin ich mit dem großen Ideal "Familie", und ich habe dieses Ideal als meinen Wunsch übernommen. Wie meine Geschwister und Eltern hätte ich gerne meinen ersten Partner geheiratet und wäre mit ihm "glücklich bis ans Lebensende" geworden. Es hat halt bei mir nicht geklappt. Von Anfang an nicht. Nach allerlei Affären und einigen Partnerschaften, die sich als nicht so besonders herausgestellt haben, habe ich einen Mann gefunden, den ich wirklich mag. Ich war nicht verliebt, nicht überschäumend, ich hab nicht gesprüht, aber ich hab mich sicher gefühlt, heimelig, und wir konnten über alles reden. Auch über meine bisherigen Erfahrungen, und dass ich nicht wisse, ob ich ihm sexuell mein Leben lang treu sein kann. Wir haben geheiratet, wollten Kinder. Es hat nicht geklappt. Schon davor war eine Schwierigkeit, dass wir keine gemeinsamen Interessen oder Begeisterungen haben. In unserem Alltag war Zuneigung und Zärtlichkeit, aber keine Lust, weder miteinander, noch aneinander, noch aufeinander, sexuell kaum und auch in anderen Bereichen hatten wir kaum gemeinsam Lust auf etwas.

Mit den vergeblichen Kinder-Versuchen kam Enttäuschung. Weil wir auch da vieles nicht geteilt haben miteinander: Immer wieder war - trotz beiderseitigem Bemühen - der Sex für mich wenig lustvoll. Die sachliche Komponente (Initiative, zeitlicher Überblick) war meine Aufgabe. Und emotional haben wir gar nichts geteilt, die Hoffnung nicht und die Enttäuschung nicht. Ich habe versucht, Gemeinsamkeit einzufordern, aber es gelang nicht.

Und dann habe ich mich verliebt, in eine Freundin. Die Erkenntnis, dass ich verliebt bin, kam erst später, zuerst haben wir viel Zeit miteinander verbracht, immer mehr und lieber und irgendwann hatten wir eine wunderbare Nacht miteinander. Umwerfend. Mindblowing. Sie ist lesbisch, und zum ersten Mal habe ich Sex mit einer Frau erlebt, die wusste, was sie will, nämlich das, was eine Frau zu bieten hat.

Ich habe meinem Mann davon erzählt. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich verliebt in sie bin. Er war einverstanden, dass ich mit ihr eine Beziehung beginne. Sie auch, und so haben wir drei uns auf das Abenteuer Polyamorie eingelassen. (Das Wort hatte ich gekannt, aber erst lang nachdem wir es gelebt haben verstanden, dass es das war. Wir hatten es einfach begonnen.)

Auch sie hat sich darauf eingelassen, aber immer deutlicher wurde ihr, dass sie das nicht will. Sie will monogam leben, und auch wenn mich von meinem Mann zu trennen so ziemlich das einzige war, das für mich nicht in Frage kam, fühlte sie sich in der zweiten Reihe (und war sie rechtlich ja auch - keine Chance auf einen offiziellen Platz in meinem Leben, aber jemand anderer, der diesen Platz sehrwohl hat) und hat sich schließlich getrennt - nicht von mir als Person, aber von dieser Beziehungskonstellation (und damit auch von mir).

Mit ihrem Gehen hat sich etwas für mich verändert. Für mich war immer klar, dass ich bei meinem Mann bleibe, weil ich ihn mag und weil es gut ist mit ihm. Mit ihr habe ich aber erlebt und gelebt, was ich mit ihm vermisst habe: Lebenslust, intensiven Kontakt, geteilte Hobbies und nicht zuletzt sehr innigen Sex.

Und jetzt?

Ich bin ausgezogen, lebe bei einer Freundin. Ich weiß nicht, wie es weiter geht mit meinem Mann, den ich nach wie vor unheimlich mag und schätze. Ich weiß nicht, wie es weitergeht mit ihr, ob wir eine Zukunft haben oder hätten miteinander. Ich will meine Ehe nicht verraten, mein sehr bewusst gegebenes Versprechen nicht brechen. Ich habe Angst davor geschieden zu sein und mit einer Frau zu leben. Und ich bin unfassbar neugierig darauf. Ich mag es so sehr, dass es keine klassischen Rollen gibt in einer homosexuellen Beziehung. Das schafft so viel mehr Augenhöhe!

Vielleicht ist es auch ein "beide nicht" und schauen, wo mich das Leben weiter hin trägt. Kennenlernen, wie diese neu entdeckte und mit neuem Ernst entdeckte Seite an mir ist und wie ich sie leben kann und will.
Ich will nicht (wieder) allein sein. Ich habe keine Lust auf Partner*innen-Suche - ich habe ja zwei Menschen, mit denen ich gern in Beziehung wäre. Ich will auch nicht "wieder von vorn anfangen" (ist es ja beileibe nicht, es fühlt sich halt trotzdem ein bisschen so an). Und ich frage mich, wer ich bin, wo ich hin gehöre. Waren meine bisherigen Beziehungen mit Männern ein Erfüllen der Heteronormativität unserer Gesellschaft? Habe ich mich bloß nie getraut, ernsthaft Frauen zu wollen?

Mit all meinen Fragen gehe ich nun Schritte. Kleine Schritte, einen nach dem anderen. Und nach jedem Schritt schaue ich, wo er mich hingebracht hat. Und spüre hin, wo ich den nächsten Schritt hinsetzen will. Das macht Angst. Angst, dazu zu stehen, dass ich nicht "der Norm" entspreche. Angst, dass ich zu langsam sein könnte, und dass beide Beziehungen keine Zukunft haben. Und es ist anstrengend, so gar nicht zu wissen, wohin es geht. Es ist aber meine einzige Möglichkeit. Nur so kann und will ich gerade gehen.

Ich bin überrascht, wie sehr mich diese Erfahrung rüttelt und bewegt, wie sehr ich mich in verschiedenster Hinsicht in Frage stelle: Was war das bisher? Wo gehöre ich hin? Bin ich bi? Oder genügen mir Frauen? Wie groß ist die homosexuelle Seite? Welchen Platz habe ich in der homosexuellen und queeren Community, wo ich doch mit einem Mann verheiratet bin? Worauf muss ich "aufpassen", wenn ich offen homosexuell lebe, wie reagiert die Gesellschaft, gibt es Gefahren und wenn ja, welche? (Ist der Patschen in meinem Rad, das ich vor der HOSI-Bar stehen hatte, beim Radeln entstanden oder anders?)

"Ein Schritt, ein Atemzug, ein Besenstrich.", sagt Beppo Straßenkehrer im Buch "Momo". Daran werde ich mich halten.



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 09.12.22 21:15.
Re: er? sie? beide? oder alles ganz anders?
09. Dezember 2022 20:06
Liebe Vraunai,

Ja: "Ein Schritt, ein Atemzug, ein Besenstrich." !
Ich bin bewegt nach dem Lesen deines Textes. Ich habe das Gefühl, genau zu verstehen, wie es dir geht. Ich befinde mich in einer ähnlichen Situation und bin manchmal schockiert, von der Heftigkeit meiner Emotionen und der Stärke der Angst, die mein inneres Coming Out ausgelöst hat. Ich habe ganz langsam verstanden und akzeptiert, dass ich sehr viel Zeit brauchen werde und dass ich noch lange mit sehr schwierigen Gefühlen leben muss.
Irgendwo habe ich gelesen, dass die psychische Bewältigung ein spätes Coming Out mindestens 2 und bis zu 5 Jahren dauern kann.
Auch wenn das bedeutet, dass ein anderer Mensch nicht so lange auf mich warten kann.... brauche ich die Zeit, die es braucht.

Ich denke, dass es "nicht er, nicht sie, nicht beide, sondern nur ICH" sein kann zum jetzigen Zeitpunkt. Dass ich wieder neu lernen muss mit mir allein zu sein, die Zukunft nicht zu kennen, lernen muss auf mich zu achten und mich wahrzunehmen.

Es ist gut, dass du hier geschrieben hast. Alle deine Gedanken und Gefühle sind ganz normal in deiner Situation und kann ich so gut verstehen.

Nora
Re: er? sie? beide? oder alles ganz anders?
09. Dezember 2022 21:06
Liebe Nora!

Danke für deine Antwort!!

Ich weine. Weil ich völlig perplex bin, wie nahe mir ist, was du schreibst.

"Ich denke, dass es "nicht er, nicht sie, nicht beide, sondern nur ICH" sein kann zum jetzigen Zeitpunkt. Dass ich wieder neu lernen muss mit mir allein zu sein, die Zukunft nicht zu kennen, lernen muss auf mich zu achten und mich wahrzunehmen."

JA! Genau!

Erst im Schreiben ist mir "Ein Schritt. Ein Atemzug. Ein Besenstrich." eingefallen und ich muss es mir wohl selbst noch sehr oft sagen, eingestehen, einfordern.

In deinem eigenen Beitrag schreibst du, wie erschöpft du bist, wie müde. Auch das kenne ich genau momentan. Ich habe keine Motivation, keinen Antrieb. Ich will Leute treffen, aber alles, was mit Arbeit, Konzentration, zielgerichteten Tun zu tun hat, kostet unglaublich Überwindung. Ich krieg's einfach nicht hin. Mein "Ich" hat offenbar andere Wichtigkeiten, wo die Energie gebraucht wird, und "Kopfdinge" sind wohl vielleicht auch einfach im Weg.

Du schreibst von 2-5 Jahren, die es dauert, sich da klar zu werden. Uff! So lang noch in dieser Anstrengung, Unsicherheit? Trotzdem - oder erst Recht!: Danke für den Ausblick! Umso mehr werde ich wohl Geduld mit mir selbst üben und mich bemühen, die kleinen Schritte anzuerkennen und dazwischen an die Atemzüge und Besenstriche zu denken.

Ich bin so froh, hier Menschen mit ähnlichen Erfahrungen gefunden zu haben! Ich hab noch nie in einem Forum mitgeschrieben. Und plötzlich bin ich mittendrin...
DANKE für deine Antwort!!!
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