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Mein unperfektes perfektes Leben

geschrieben von Raisedfist 
Mein unperfektes perfektes Leben
27. August 2022 10:56
Hallo,

ich bin 34 und stellte vor ungefähr 3 Monaten für mich fest, dass ich schwul bin. Gerne würde ich davon erzählen.

Dass es so sein könnte, wusste ich schon immer. In meiner Jugend hatte ich die ein oder andere sexuelle Erfahrung mit Männern. Ich war aber auch durchaus in der Lage Beziehungen mit Frauen einzugehen und so war ich bis Anfang des Jahres mit meiner Frau zusammen.

Da ich aus einem streng katholischen Elternhaus komme, habe ich meine Neigungen nicht zugelassen und bis dato verdrängt. Mein eigener Glauben hat es u.a. nie zugelassen.
Ich heiratete meine Frau, weil es sich so gehörte und war mir bereits am Hochzeitstag bewusst, dass ich unglücklich werden würde, dass ich sie unglücklich mache. Sie wusste von meinen Neigungen und ignorierte es gekonnt, denn die Frau liebte mich wirklich. Ich liebe sie auch, aber nicht auf die Art und Weise wie sie es verdiente.

In den gemeinsamen Jahren mit meiner Frau spielte ich meine Rolle als heterosexueller Mann gut. Jeder sah in uns das "perfekte", attraktive Ehepaar. Wir hatten ein Haus, ein Kind war in Planung, beruflich hatte ich einen guten Stand, und ich passte mich den Vorstellungen meiner Familie an. Aber es fehlte mir stets etwas.

Ich bin ihr nie fremdgegangen, obwohl ich sexuell frustriert war und der Sex mich nie befriedigte. An andere Männer habe ich aber durchaus gedacht.

Vor einigen Jahren verknallte ich mich prompt in einen Freund von mir. Uns verband eine tiefe Freundschaft und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich fand in ihm alles, was ich mit meiner Frau nicht hatte. Wir machten beide Musik, gingen auf etliche gemeinsame Rockkonzerte und verstanden uns blind. Eines Abends küsste er mich, als wir beide was getrunken hatten. Es löste mehr in mir aus als bei allem was ich je mit einer Frau hatte und ich verstand die Welt nicht mehr.

Er gestand mir seine Zuneigung und ich entwickelte Gefühle für ihn, die ich als verheirateter Mann nicht haben sollte. Ich war zudem Zeitpunkt aber noch nicht soweit, mir einzugestehen, dass ich eigentlich schwul bin und schon gar nicht war ich bereit, mich von meiner Frau zu trennen. Meiner heilen Familie. Nicht auszudenken, was es auf der Arbeit für Konsequenzen hätte.


An meinem Geburtstag im Juni, da waren meine Frau und ich bereits getrennte Wege gegangen, traf ich mich mit einem anderen Mann den ich online kennenlernte. In der Nacht hatte ich den leidenschaftlichsten und erfülltesten Sex seit Jahren. Der Mann rüttelte mich auf und ich begriff, ich bin schwul.
Es entwickelte sich in den letzten Monaten etwas zwischen ihm und mir, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas verbindliches mit einem Mann eingehen kann. Ich weiß noch nicht was ich will und habe stetig das Gefühl, etwas nachholen zu müssen.

Gleichzeitig plagen mich Gewissensbisse, wegen meines katholischen Glaubens.



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 29.10.22 13:22.
Re: Mein unperfektes perfektes Leben
27. August 2022 12:29
Hallo,
ja einige Passagen deiner Schilderung sind mir so oder ähnlich bekannt. Du bist jetzt von meinen vielen Kontakten der erste, der wie ich seine künftige Frau über seine Neigung informiert und mit diesem Wissen geheiratet hat.
Aber ihr habt das dann in der Ehe nie thematisiert und du hattest dann auch keine Männerkontakte in der Ehe. Zudem hat dir der Hetero-Sex anscheinend keine Erfüllung gegeben. Da unterscheiden wir uns grundsätzlich.
Dass du in deinen jungen Jahren noch solche Bedenken hast und ein Karriereende als Beamter befürchtest kann ich nicht verstehen, es sei denn, du wohnst in einer sehr ländlichen und konservativen Gegend.
Im Landratsamt Aschaffenburg ist der Pressereferent, ein junger Mann, offen schwul und Schriftführer der Rainbows. Der Bürgermeister von Alzenau, ein junger Mann mit Partner wurde mit diesem „Makel“ zum Bürgermeister gewählt, ebenso der Bürgermeister von Wiesen, einem 1.000-Serlen-Ort. Da hat sich in den letzten 30 Jahren doch einiges geändert.
Ich bin auch noch damit aufgewachsen, dass Homosexualität eine Todsünde ist und die ewige Verdammnis erfährt.
Was deine Vorbehalte wegen deines katholischen Glaubens betrifft, da kannst du viel „Gelerntes“ getrost über Bord werfen, wenn einfach Respekt, Achtung und Liebe des anderen in all deinem Tun verbleibt.
Du wirst nun in einen Strudel von Gefühlen kommen, der leicht auch tief hinunterziehen kann. Da ist es wichtig, eine oder ein paar Personen zu haben, denen du volles Vertrauen schenken und alle deine Gefühle besprechen kannst. So besteht die Möglichkeit, mit einer gewissen Gelassenheit, Zuversicht und Selbstliebe ohne Überstürzung den richtigen Weg zu finden.
Aber ohne Blessuren kommt man normalerweise nicht durchs Leben. Dann braucht’s die Stärke, diese möglichst unbeschadet wegzustecken.
Ich wünsche dir viel Kraft, den klaren Blick, die Wegbegleiter und viel Erfolg.
Tom
Re: Mein unperfektes perfektes Leben
30. August 2022 18:22
Hallo,

danke für deinen Input.

Mir war die Treue in meiner Ehe immer wichtig, ganz gleich welche Neigungen ich hatte und zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht bewusst, welche Konsequenzen das mit sich zieht. Ich dachte, dass mein Interesse an Männern irgendwann verschwinden würde und ich meine Frau so lieben und begehren könnte wie sie es verdiente. Das war ein Trugschluss.

Da hast du was falsch verstanden. Ich befürchte kein Karriereende und kann durchaus beurteilen, inwiefern ein (unfreiwilliges) Outing meine Position beeinflussen würde. In meinem Berufszweig herrscht noch lange keine Gleichberechtigung.
Aber das soll hier gar kein Thema sein und ich möchte meinen Beruf auch nicht weiter ausführen. Trotzdem danke für deine Gedanken diesbezüglich.

Ich glaube, mein Problem ist es nicht, dass mir mein Glaube im Weg steht, sondern die Kirche an sich. Eine Stigmatisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe aus heutiger Sicht kann aus der Bibel nicht abgeleitet werden. Man muss nicht mit allem einverstanden und im reinen sein, was die Kirche einem vorlebt.
Re: Mein unperfektes perfektes Leben
01. September 2022 09:44
Als ein in einem katholischen Verband ehrenamtlich tätiger Christ bin ich der Überzeugung, dass die Kirche als Institution und Richtschnur für das Leben erheblichen Schaden genommen und auch viel Glaubwürdigkeit verloren hat. Zum einen passen im Hinblick auf den Missbrauch und den bis heute teilweise schändlichen Umgang damit und zum anderen die uns als „einzige Wahrheit“ vermittelten Lehren unter fachkundiger Betrachtung oftmals nicht überein. Selbst unter den Priestern gibt es da eine große Bandbreite, was ihren Umgang mit den kirchlichen Lehren und Vorgaben betrifft. Selbst auf der Datingplattform planetromeo habe ich einen katholischen Priester kennengelernt (ohne sexuellen Kontakt- das hatte mir dann meine katholische Prägung letztendlich „verboten“).
Wenn du nicht gerade in der Institution Kirche beschäftigt bist, sollte sie dir für deine Lebensgestaltung nicht im Wege stehen.
Auch die Kirche wird in ihrem Umgang mit LGBT+-Beschäftigen gezwungenermaßen einen deutlichen Wandel vollziehen.
vG
Tom
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