Hallo zusammen,
ich bin neu hier und froh auf dieses Forum gestoßen zu sein und habe mir einige Geschichten (Beiträge) durchgelesen und konnte richtig mitfühlen.
Ich habe schon öfters überlegt einen Beitrag zu schreiben bzw. meine Geschichte zu erzählen, aber ich habe mich irgendwie nicht getraut bzw. gedacht "wen interessiert das schon?" oder vielleicht lag es doch an der Angst, das es real ist, wenn man etwas schreibt.
Zunächst ein paar Infos zu mir: Ich bin männlich, 32, habe türkischen Migrationshintergrund und bin sehr liebevoll und behütet (fast schon zu sehr) in einer schon eher liberalen Familie groß geworden. Ich war als erster "männliche" Nachfahre (Enkel), der in Deutschland geboren wurde, schon immer irgendwie der Mittelpunkt der Familie und alle Augen waren stets auf mich gerichtet, was auch in mir als Muster auferlegt hat, nie Fehler machen zu dürfen, immer der beste zu sein, auf dem Siegertreppchen immer auf dem 1. Platz stehen usw, da ich schon irgendwie auf Schritt und Tritt beobachtet und bewertet wurde. In türkischen Großfamilien ist es ja meist auch so, dass jedes Erlebnis, Entscheidung oder Ideen, immer im ganzen Kreis der Familie diskutiert werden müssen. Da habe ich schon früh auferlegt bekommen, funktionieren zu müssen, immer super und der Vorzeigesohn/Enkel zu sein. Ich war schon immer aber irgendwie der Rebell, wollte alles anders machen und mein Ding machen, wurde aber irgendwie durch Dankbarkeit, schlechtes Gewissen und fürsorgliche Manipulation klein bzw "in Schach" gehalten.
Nun gut, ich sage mal so: Durch Therapie und andere Selbsterfahrungsprozesse habe ich mich mittlerweile sehr gut abgrenzen können, gestalte mein eigenes Leben, abseits der Familienerwartungen und Grenzen und habe somit die Muster erkannt.
Ich bin ohne Vater aufgewachsen. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich noch nicht mal 1 Jahr alt. Seitdem wurde das Thema Vater niemals in den Mund genommen und tot geschwiegen. Nachdem ich mein Leben lang mit "Ich hab keine Vater und was ich nicht kenne, kann ich nicht vermissen" durch die Welt gelaufen bin, habe ich mit 29 auf eigene Faust meinen Vater gesucht und in der Türkei gefunden und ihn dann mit 30 das erste Mal kennengelernt.
In meiner Familie sieht das Thema "Liebe/Bindung/Partnerschaft" wie folgend aus:
Oma und Opa verheiratet, können sich eigentlich nicht ausstehen und haben sich damit abgefunden, Tanten und Onkels in unglücklichen Ehen, in denen Null Liebe herrscht und von Betrügen bis hin zu Prügeleien schon alles dabei war. Meine Mutter hatte nach meinem Vater keinen Partner mehr und hat mir von klein auf das Gefühl gegeben "ich brauche niemanden. Ich genüge mir selbst. Nur auf mich selbst kann ich mich verlassen." Erst Jahre später, habe ich verstanden, dass das auch bei ihr nur Angst ist und sie sich das eingeredet hat, aber da war ich schon in diesem Kreislauf gefangen.
Ich bin seit der Schulzeit nur im "Karrieremodus" gewesen. Abitur, BWL Studium, toller Job im Großkonzern, erfolgreich, viele Freunde, schönes Leben mit viel Reisen.
Das Thema "Liebe, Bindung, Sex" war immer ausgeblendet, verdrängt. Ich habe schlichtweg die Einstellung meiner Mutter übernommen "Ich brauche das nicht". Um mich herum haben meine Freunde und Bekannte sich verliebt, entleibt, verlobt, getrennt usw und ich lief weiterhin durch die Gegend "Ich brauche das nicht." und irgendwann "Siehst du, klappt eh nicht. Beziehungen zerbrechen und zurück bleibt Herzschmerz und Einsamkeit, besser erst gar nicht diese Tür aufmachen."
Und nun kommen wir nach der super langen Einführung (tut mit leid
) zum eigentlichen Thema:
Da ich mich nie mit diesen Themen befasst habe, habe ich auch lange meine Sexualität und sexuelle Orientierung unterdrückt. Lange Zeit habe ich gedacht "Ach das geht schon noch vorbei. Das ist nur ne Phase. Aussitzen und irgendwann wird das schon alles gut werden". Aber nein, das tut es nicht. Und mittlerweile will ich das auch gar nicht mehr.
Ich habe mein Leben lang aus Selbstschutz, Angst vorm Eingestehen, Angst vor Ablehnung bzw. anders gesehen zu werden und natürlich vor dem familiären bzw. Migrationshintergund verdrängt, dass ich auf Männer stehe. Also, ich kann nicht sagen, ob ich es wirklich schon immer wusste, da ich in meiner Schulzeit oft etwas mit Frauen hatte und meine erste große Liebe mit 19 Jahren auch eine Frau war. Ich weiß es eigentlich so seit Anfang 20, aber habe mir es nie erlaubt, überhaupt diese Gedanken, Fantasien oder Bedürfnisse auszuleben und Zack wieder Fokus auf andere Dinge, aussitzen, geht schon bald vorbei.
Mit Anfang 30 habe ich einen Kollegen auf der Arbeit kennengelernt. Wir haben uns super verstanden, daraus wurde eine Freundschaft. Irgendwie war die Dynamik dieser Freundschaft aber eine ganz andere als ich das so kannte und so wurde alles viel intensiver, die Nachrichten intimer und unsere Gespräche viel tiefgründiger und schöner und ich habe bemerkt, dass sich bei mir Gefühle aufgetan haben, die ich in einem Jahrzehnt nicht mehr gespürt hatte. Ich erfuhr im Nachgang, dass er sofort in mich verguckt hatte, nach dem er mich das erste Mal gesehen hatte. Nach intensiver Kennenlernzeit gingen wir so etwas wie eine Beziehung ein, "so etwas wie", weil er mit Anfang 40 ebenfalls nicht geoutet ist, heimlich sein Schwulsein auslebt und mir Zeit geben wollte, mich mit dieser Veränderung/Situation anzufreunden und nicht zu überfordern, da er meine Situation natürlich auch gut nachempfinden konnte.
Leider, leider ging diese Beziehung in die Brüche, weil er mich sehr geliebt hat, aber ich ihn leider nicht. Ich habe es oft versucht, immer wieder, dass es irgendwie klappt, die Gefühle vielleicht stärker werden, aber es sollte einfach nicht sein. Es hätte ja auch so schön sein können: toller Mann, der einen liebt, Verständnis hat, Zeit und Raum gibt, kein Zwang sich sofort outen zu müssen usw, aber das Herz wollte leider nicht. In dieser Zeit habe ich auch krasse Dinge erlebt, die aus meiner Erziehung resultieren. So habe ich nach der ersten sexuellen Tätigkeit, vor Schamgefühl und schechtem Gewissen, die Wohnung verlassen, weil ich etwas "Schändliches" getan habe und wenn das jemand wusste etc etc. Das wurde mit der Zeit aber immer besser, normaler, aber dieses latente Gefühl der "Du machst was total verbotenes" schwirrte immer mit.
Das Beziehungsende ist nun 3 1/2 Monate her. Ich habe ihm zuliebe einen kalten Kontaktabbruch gemacht, obwohl er unbedingt eine Freundschaft aufrecht erhalten wollte. Ich wollte ihm das aber nicht antun, denn er war so stark in mich verliebt, das könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich glaube nach wie vor, dass der Kontaktabbruch das beste für uns beide ist, um nach vorne zu blicken. Und nein, die Beziehung endete nicht, aufgrund meiner Bindungsangst, oder Verdrängung des "Verbotenen". Wir haben immer Wiede geredet und es versucht, aber die Erwartungen jeweils waren andere.
Was seit dem Beziehungsende bleibt: Einsamkeit, das Gefühl so etwas nie wieder erleben zu werden, hin und wieder Verzweiflung ob man die richtige Entscheidung getroffen hat, die Gedanken, dass es sich nach SO LANGER ZEIT endlich mal organisch, normal im Alltag was ergeben hat und so etwas nie wieder passieren wird, dass man seine Chance vertan hat etc. Auch im Hinblick auf: Verständnis dafür zeigen, dass man (in diesem Fall: ich) nicht so viel Erfahrung hat, "neu auf dem Gebiet" ist, nicht geoutet ist, etc.
Ich konnte mit zwei Freunden darüber sprechen, wo ich mich halbherzig geöffnet habe. Ich habe das auch so runtergespielt so nach dem Motto "war neugierig, wollte mal die Erfahrung machen", aber bloß nicht sagen, dass man schwul ist und somit auch keine 100%ig ehrliche, authentische Lebensweise. Die Freunde habe es ganz gut aufgenommen und gar nicht so reagiert wie ich es erwartet hatte, aber ich traue mich nicht, weiter/tiefer darauf einzugehen.
Mich lässt das nicht mehr los. Ich habe diese "Tür" geöffnet (man könnte sagen "Gott sei Dank" und "endlich!" ), aber das hat in mir eine sooooo krasse Sehnsucht nach Liebe und Bindung ausgelöst, dass ich seit Wochen kaum Schlaf finde, Gedankenkarussell habe, verzweifelt bin, dass mir das Thema "Liebe" nicht vergönnt ist und ich alleine bleiben werde, weil ich mich nicht traue weiter zu gehen.
Weiterzugehen im Sinne von: Endlich akzeptieren schwul zu sein und Ich selbst zu sein, statt in Gesellschaft eine Maske aufzusetzen und eine Rolle zu spielen. Zu mir endlich stehen und somit authentisch sein und mein Leben für mich leben. Und somit andere Männer zu Daten und möglicherweise doch noch einen Partner zu finden.
Was abgesehen von dem "Akzeptieren schwul zu sein" dazu kommt, ist meine RIESEN ANGST vor der Szene. Ich weiß, man kann nicht alle über einen Kamm scheren und Ausnahmen bestätigen die Regel und solange ich es nicht mal versucht habe, kann ich auch keine Schlüsse ziehen, aber ich habe eine Riesen Angst davor von den Vorurteilen, die man von Medien, Foren, Artikeln kennt: Nut auf Sex aus, oberflächlich, keine Bindung, sich in Kategorien einordnen lassen, etc. sind nur ein paar Beispiele. Kennt ihr sicher.
Ich bin ein ganz normaler Typ. Man würde mich auf de Straße niemals als schwul identifizieren können. Ich bin gerne Mann und männlich und das schätze ich auch an meiner Erfahrung mit dem Kollegen. Wir waren beide Männer, die aber Männer mögen.
Ich weiß nun nicht wie ich weiter machen soll... und das bringt mich wirklich an den Rand der Verzweiflung.
Ich kann seit Wochen nicht mehr schlafen, liege bis tief in die Nacht wach, bin total unausgeglichen und sehr oft melancholisch, traurig, weil ich gerne eine Partnerschaft hätte.
Für den richtigen würde ich mich sogar outen, aber vorher nicht, Und um die Verzweiflung tiefer zu erklären: wenn ich eben nicht auf Datingplattformen, Portalen oder Schwulenbars nach potenziellen Partnern suchen kann, weil ich dazu (noch) nicht bereit bin, offen dazu zu stehen. Wie oft ich schon Apps runter geladen und kurz rein geschaut habe und direkt panisch gelöscht habe, damit mich keiner "findet" und erkennt aus meinem weiteren Bekanntenkreis.
Ich weiß nicht, ob das Sinn macht was ich hier sage, aber ich hoffe schon. Ich möchte quasi kein "Fass aufmachen" wenn noch nichts "da" ist. Aber ich stehe vor der Riesen Wand, wo ich mir denke "Ich will jemanden kennenlernen und eine potenziell gemeinsame Zukunft aufbauen", aber ich weiß nicht wie, wenn ich mich nicht öffentlich schwul outen und somit Daten kann.
Und damit stehe ich irgendwie mit dem Rücken an der Wand. Und dann kommen die Gedanken, dass ich vielleicht doch nochmal "das Alte" wagen sollte, weil man das ja kennt und es nicht besser/einfacher werden wird, obwohl ich weiß, dass mein Herz das nicht will... das ist wahrscheinlich die Angst vor dem Neuen, der Konfrontation.
Ihr wisst gar nicht was das das hier gerade zu tippen ein Riesen Schritt für mich war und wie mein Magen sich dreht, die Gedanken, die ich ständig im Kopf habe, nun einfach mal aufgeschrieben zu haben... ein bisschen wie ein Befreiungsschlag, aber auch Hoffnung, dass es irgendwie gut ist diesen ersten Schritt der Selbstakzeptanz zu gehen.
Ich hoffe ihr versteht mich irgendwie und habt Tipps für mich wie ich meine Ängste vor der Szene und auch der Angst überwinden kann und vielleicht doch jemanden kennenlernen kann, ohne dass ich direkt mein Leben auf den Kopf stellen muss...
Danke schon mal für eure Zeit sich den Roman hier durchzulesen
Viele Grüße und einen wunderschönen Tag euch!
3-mal bearbeitet. Zuletzt am 14.09.20 16:55.