Hallo Tim,
danke für Deine Gedanken und Deinen neuen Bericht. Atme erst einmal kurz durch und sei Dir sicher: Du hast gerade einen sehr richtigen und wichtigen Schritt getan - nicht nur für Dich, auch letzten Endes für Deine Frau und Familie. Dass es dennoch jetzt erst einmal schwierig ist, dass Du Dir Vieles bewusst werden musst, dass auch Deine Frau und andere enge Menschen Zeit brauchen, das ist ganz normal. Alle brauchen Zeit, jede/r sucht nach Lösungen. Deine Frau beschäft sich natürlich auch damit, und sicher klammert sie sich auch an der Hoffnung (völlig verständlich), dass Di Dich in Wahrheit irrst.
Ich glaube aber, dass die Chancen, dass Du Dich irrst, sehr gering bis kaum spürbar sind. Zu sehr deuten Deine Berichte und Gefühle in eine andere Richtung. Und das ist - trotz allem - nicht schlimm! Dass Du so bist, wie Du bist, ist keine Krankheit und kein Fehler, wenngleich auch solche Gedanken ja manchmal in einem kreisen. Letzten Endes machst Du nichts Schlimmes, wenn Du zu Dir stehst.
Das Problem - um es einzukreisen - ist sicher, dass Du lange Zeit Dir das nicht ganz bewusst warst und Du andere Wege suchtest. Natürlich ist das nicht gut, aber Du konntest auch nicht anders. Letzten Endes hast Du nur das getan, was Dir nun auch von Deiner Frau vorschlägt: Du hast probiert, es zu ignorieren. Was sie fordert (und was ich natürlich auch verstehen kann), hast Du jahrelang praktiziert. Du hast versucht, ein vermeintlich "normales" Leben zu führen, hast viele Deiner Gefühle zurück gestellt in der Hoffnung, anderweitig Deine Erfüllung zu suchen. Nur reichte das leider nicht und nun gilt es, das Vergangene abzuhaken. Das heißt nicht, dass Dir alles egal sein soll, was bisher war, das geht nicht. Das ist ein Teil Deines Lebens und das bleibt es auch. Das sollte auch nicht verschwinden, Du brauchst Dein bisheriges Leben nicht zu ignorieren. Du liebst Deine Menschen um Dich herum, sie lieben auch Dich.
Deshalb gilt es zum einen einen guten Weg für Dich zu finden wie auch für Euch alle zusammen. Der bisherige war nicht richtig, den gilt es zu korrigieren. Wenn möglich so, dass möglicht Wenige leiden.
Das ist harte Arbeit, das ist wahr. Es wird Kraft kosten, aber am Ende gehst Du gestärkt da hervor und letzten Endes ist es auch für Deine Frau besser, dass Du nicht dauernd was verstecken musst und nach und nach kränker und labiler wirst. Wie Du so hat auch sie ein Recht darauf, zu wissen, was ist und ggf. entsprechend ihr Leben entsprechend einzurechnen.
Keiner war oder ist "böse", es ist nur eine sehr komplexe Situation, die Ihr versuchen müsst zu lösen. Und dass werdet Ihr auch schaffen. Aber natürlich nicht von heute auf morgen.
Jede/r braucht da seine/ihre Zeit: Du, Deine Frau, Deine Familie, Deine Freunde etc. Die muss man jeder/m auch lassen.
Lasse Dich aber nicht von irgendwelchen "Heilungen" oder ähnlichen Dingen irritieren, die so nicht passen. Du möchtest sicher noch viele Jahrzehnte leben und vor allem so leben, dass Du (und auch Dein Umfeld) möglichst glücklich werden oder sind. Bist Du glücklich, kannst Du auch anderen wieder helfen.
Du musst auch wahrlich nicht viele Erfahrung haben, um zu wissen, dass Du schwul bist. Ich bin seit zwanzig Jahren nun geoutet, habe viele (auch) schwule Freunde, bewege mich in entsprechenden Freundeskreisen (nicht nur, ich habe auch viele Hetero-Freunde, die ich sehr mag und die zu meiner "Familie" gehören). Aber - nenne mich "Ladenhüter" oder sonstwas - de facto habe ich in sexueller Hinsicht wenig Erfahrung. Ich hatte de facto eine (!) Beziehung und ansonsten ein paar wenige "Erfahrungen", das ist aber erbärmlich wenig. Das ist sicher auch ein Problem für sich und das will ich hier jetzt gar nicht in den Mittelpunkt stellen. Aber man könnte dann sagen: was hat es Dir gebracht, geoutet zu sein, wenn Du gar nicht ständig irgendwelche Bettgeschichten hast?
Ich muss sagen, es hat sich dennoch gelohnt (auch wenn ich hoffe, dass sich auch dieser Teil mal ein wenig ändert). Vor dem Start meines Coming Outs, in der Zeit, da ich "es" zwar wusste, aber nie ausleben wollte, war ich oft depressiv bis hin zu Selbstmordgedanken. Das war z.T. sehr schwer, ich litt sehr, es quälte mich. Aber dennoch war für ein Coming Out lange Zeit kaum denkbar.
Nach meinem Coming Out und seitdem ich mich nicht mehr verstecken muss, geht es mir deutlichst besser, ich habe den Druck auf der Brust weg. Ich treffe völlig zwanglos (auch) schwule Freunde, habe da eine megaguten Freundeskreis, wir helfen uns, sind eine Art "Familie", das sogar obwohl die meisten um mich herum einen Partner haben und ich eher so als "bester Freund" gelte.
Ich verstecke es auch nicht nach außen, stehe dazu, aber gehe damit auch nicht hausieren. Es MUSS nicht Jede/r wissen, ich sehe nicht "schwul" aus, bewege mich nicht tuntig und bin auch in keiner "schwulen Scheinwelt". Auch meine Hetero-Freunde sind mir wichtig, ich bin z.B. Patenonkel oder auch sonst Vertrauter, oft eine Art "Familienmitglied".
Im Beruf ist es kaum ein Thema, dass ich schwul bin, aber auch da: sich hänge es nicht raus, verschweige es auch nicht, und das tut so was von gut.
Aber letzten Endes ist die Homosexualität auch nur ein Aspekt von mir. Es ist ein wichtiger, aber ich bin auch sehr viel mehr als das.
Aber dennoch: auch wenn ich wenig sexuelle Erfahrung habe, weiß ich, bei wem mir das Herz klopft, wen ich spannend, interessant, ja auch sexy finde. Und es geht nicht nur um Sex (dann vergessen viele nach dem Motto: "Dann rammel halt mal und dann ist gut"
, sondern zu wem man sich hingezogen fühlt, wem man nahe sein möchte, mit wem man schnell menschlich eine Ebene findet, mit wem man gerne Zeit verbringen möchte, Themen findet etc.
Ich finde Männer nicht nur anziehend, nein, ich "liebe" sie halt (nicht alle, sondern natürlich nur einen Teil von ihnen). Das ist eher "ganzheitlich", nicht nur "Trieberfüllung".
Und das weiß ich auch, wenn ich gerade niemandem im Bett habe.
Lass Dich also nicht davon verrückt haben, dass Du keine Erfahrungen in dem Bereich hast. Denn auch ohne dass Du sie hast, kannst Du wissen, welches Dein Weg ist.
Du hast wichtige Schritte getan: sei schon mal stolz darauf und bleib nicht stehen. Gehe aber jeden Schritt so, dass Du ihn selbst auch bewältigen kannst. Aber gehe nicht zurück.
So, jetzt waren dass viele "schlaue Wort" von mir, ohne Anspruch natürlich darauf, dass alles für Dich passt. Aber es sindf Gedanken zu Dir und vielleicht bringen sie Dir was. Wenn nicht, dann ignoriere sie.
Nach wie vor gilt: Du kannst mich gerne auch privat anschreiben, falls Du magst, musst Du aber nicht. Ist nur ein Angebot.
Und/oder teile Dich gerne weiter hier im Forum mit. Gedanken zu sortieren und auszusprechen ist immer gut und hilft. Und hier ist es ja weiter anonym, Du kannst schreiben, was Dir auf der Seele brennt.
Liebe Grüße,
sendet der Mickey2.