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Neuland betreten

geschrieben von e:fi 
Neuland betreten
19. September 2012 20:38
Ich bin auf dem Land aufgewachsen. In meinem Umfeld gab es keine erwachsenen Schwulen oder Lesben, auf meiner Schule höchstens eine knappe Handvoll – es gab Gerüchte, über von Geschlechterstereotypen abweichende Jugendliche wurde getuschelt, sich zuweilen lustig gemacht. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass diese Jugendlichen Freunde hatten – sie waren nicht die beliebtesten, aber allein waren sie - ebenso wie ich, die nicht allzu viele, aber dafür sehr gute Freunde hatte - nicht.
Ich konstatierte sehr früh und ohne Angst, dass mir Mädchen gefielen und ich mich in sie verlieben konnte. Und gleichzeitig war mir bewusst, welche Konsequenzen das für mein Leben möglicherweise haben könnte. Vielleicht nicht den üblichen Weg einschlagen: Mann, Hochzeit, Kinder. Anders sein als die anderen. Das schrieb ich mit 12 oder 13 schon in mein Tagebuch.
Meine Teeniezeit über beherrschten viele Jungs und ein paar Mädchen meine Gefühlswelt, das ganze aber doch in erster Linie hypothetisch. Als ich die ersten realen Erfahrungen mit Männern sammelte, war ich schon fast erwachsen – kurz vor bzw. nach dem Abitur. Auf einer Abiparty knutschte ich zum Spaß mit einer Freundin. Ein paar Jahren vorher hatte ich sehr für sie geschwärmt, aber sie betonte direkt nach dem Kuss, nicht auf Frauen zu stehen. Und ich pflichtete ihr selbstverständlich bei. Wie fragil unsere sexuelle Identität war, dass wir uns explizit von der Möglichkeit, nicht ganz „normal“ zu sein, distanzierten – im Widerspruch zu unseren Taten und unseren Gefühlen...
Eine fast ausschließlich heterosexuelle Phase schloss sich an. Ich entdeckte Sex und war sehr verliebt in meinen ersten Freund, der als einziger schon seit Jahren wusste, dass ich auch auf Frauen stand. Aber auch wenn es Schwärmereien für Frauen gab, sie wurden nie so bedrohlich, dass ich meinen damaligen Lebensentwurf hätte in Frage stellen müssen. Nach eineinhalb sehr schönen Jahren wurde ich zum ersten Mal verlassen und interessierte mich danach monatelang weder für Frauen noch für Männer. Als ich wieder auftauchte aus dem Liebeskummersumpf, stürzte ich mich ins Singleleben. Ausgehen, Leute kennenlernen, Flirten. Und griff, obwohl die Neugier auf Frauen sehr groß war, doch wieder auf das zurück, was mir als das leichtere erschien, weil ich es bereits kannte: das Flirten mit Männern.
Um ein paar Erfahrungen und emotionale Blessuren reicher lernte ich mit 23 einen Mann kennen, der mich nach dieser anstrengenden, wilden Phase auffing: Er sah gut aus, war intelligent, lieb, selbstständig, wollte mich trotz der Aussicht auf eine Fernbeziehung und war emotional nicht noch in vergangene Beziehungen verstrickt. Ich erlebte in fünf Jahren sehr vieles mit ihm, was mich nachhaltig geprägt hat: zusammen in eine fremde Stadt ziehen, das erste Mal mit einem Partner zusammen wohnen, das Ende des Studiums. Und doch war mit dem Ende dieses Lebensabschitts für mich auch das Ende unserer Beziehung gekommen. Ich hatte eine gemeinsame Zukunft aus den Augen verloren, sah mich nicht dort, wo er hinwollte und fühlte mich eingeschränkt. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit ihm zusammen in eine Stadt zu ziehen, die ich nicht mochte, und noch viel weniger, ihn zu heiraten oder gar Kinder mit ihm zu bekommen. Ich war doch so neugierig und wollte frei sein für Neues. Also trennte ich mich von ihm und litt monatelang, weil ich mich Hals über Kopf in eine anstrengende Affäre mit einem anderen Mann gestürzt hatte. Von meiner Bisexualität wusste mein Exfreund nichts. Seine homophoben Tendenzen hatten mich von vornherein davon abgehalten, es ihm zu sagen.
Kurz nach der Trennung lernte ich meinen besten Freund kennen. Wir verliebten uns sofort platonisch ineinander und durch ihn hatte ich das erste Mal jemanden in meinem Freundeskreis, der glücklich und geoutet seine Homosexualität lebte. Es war erst vor etwa einem Jahr, als ich nach einer heftigen, aber hoffnungslosen Schwärmerei beschloss, etwas zu unternehmen. Auf einmal war mir das, worauf ich all die Jahre immer gehofft hatte - nämlich irgendwann einmal zufällig eine Frau zu treffen, die ich umwerfend fände und die sich in mich verlieben würde - zu unsicher. Ich wollte nicht noch weitere zehn Jahre in Beziehungen mit Männern verbringen und mich fragen, wie es wohl mit Frauen sein würde. Meinem besten Freund habe ich es letztlich zu verdanken, dass ich mich in einem Forum angemeldet habe, über das ich meine ersten Dates mit Frauen hatte. Und so habe ich dann schließlich auch die Eine getroffen und es hat nicht annähernd so lange gedauert, meinen Mut zusammenzunehmen und den Schritt ins Unbekannte zu wagen, wie ich dachte. Oder vielleicht doch, wenn man bedenkt, dass es von der Gewissheit, sich zu Mädchen hingezogen zu fühlen, bis zu den ersten konkreten Schritten fast 17 Jahre gedauert hat. Die Beziehungen zu den Männern bereue ich nicht, denn ich war (abgesehen von den wenigen Monaten, in denen es kriselte) glücklich. Aber dass ich den Mut nicht früher hatte, ja, das hinterlässt vielleicht ein leises Bedauern.
Das Coming-Out erschien mir zunächst immer nebensächlich. Gut, mein erster Freund wusste es. Und mit Anfang 20 hatte ich auch keine Scheu, Freundinnen davon zu erzählen. Aber es gab ja den Anlass nicht für ein groß angelegtes Outing. "Mama, Papa, Oma, das ist mein neuer Freund und übrigens, ich bin bisexuell." - Nein, nicht wirklich. Erst als es dann ernst wurde und ich Mitbewohnern und neuen Freunden, die wirklich keine Ahnung hatten (von den Dates mit Frauen hatte ich nur wenigen engen Freunden erzählt), von meiner neuen Liebe erzählen musste, da realisierte ich, wie anders es war, eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu haben. Diese Erkenntnis zieht sich immer noch durch fast alle Lebensbereiche. Erzählt man den Vermietern einer Ferienwohnung im Vorfeld, dass man ein Paar ist? Hält man in der Öffentlichkeit Händchen? Was sagt frau zu neuen Kollegen, Zufallsbekanntschaften, Frauenärzten, wenn die nach der Familienplanung fragen? Wenn wir uns morgens am Bahnhof zum Abschied küssen, gucken die Leute. Hat man jeden Tag die Kraft dazu, für blöde Sprüche oder Reaktionen gewappnet zu sein? Am schwierigsten ist es, finde ich, es den Eltern zu sagen. Die vermutlich mit Enkelkindern gerechnet haben, auch wenn nicht alle das explizit aussprechen. Und was mir auch zu schaffen macht: die Scheu anderer, nach dem Privatleben zu fragen. Das habe ich als ich in heterosexuellen Beziehungen war, nie so erlebt. Ist das Scham? Angst, die falschen Fragen zu stellen und mir aus Versehen auf den Schlips zu treten?

Dennoch: es gab keine wirklich negativen Reaktionen in Familie und Freundeskreis bis jetzt, auch wenn es mich verletzt hat, dass manche in meinem Umfeld zunächst sehr reserviert oder kühl reagiert haben. Aber das muss ich ihnen auch zugestehen, denke ich, schließlich hatten sie im Gegensatz zu mir nicht 17 Jahre Zeit, sich vorzubereiten.
Re: Neuland betreten
20. September 2012 16:11
Hi e:fi,

vielen Dank, gut geschrieben, ein Weg zum nachempfinden.

Witzig fand ich meinen Eindruck - zunächst kam mir alles recht tapsig vor, mal hierhin, mal dorthin, das Leben kennenlernen.
Aber am Ende deines Textes war ich erstaunt wie zielstrebig dein Leben im Rückblick auf mich wirkte.

Ich wünsche dir weiterhin diese Präsenz im Hier und Jetzt. smiling smiley

LG
Zeev
Re: Neuland betreten
25. September 2012 07:34
Hallo e:fi,

sehr schön geschrieben, vieles davon kenne ich aus eigener Erfahrung.

Auch ich schaute Jungs nach ... und WOLLTE mich nur in Mädchen verlieben (weil das eben so geht).

Ich hatte wenige gute Freunde, fühlte mich sehr alleine (war es in Wirklichkeit nicht ... oder eben doch???)
Mein bester Freund von damals lebt heute mit seinem Partner zusammen und hatte seine ersten Erfahrungen mit eine anderen gemeinsamen Freund aus unserer Clique ... tja, was hätte aus uns werden könnne (aber schwul war man damal natürlich nicht ....)

Die Beziehung, Partnerschaft und Ehe mit meiner (ersten und einzigen Frau) hat mir sehr viel gegeben, sehr viel bedeutet und ich habe es nicht wirklich bereut, dass es so gelaufen ist.

Und vom ersten "Aufkeimen" der Erkenntnis bis zum Coming-Out hat es noch eine Weile gedauert.

Allerdings habe ich sofort danach begonnen das "neue Leben" auszuprobieren, genau wie Du. Bekanntschaften gemacht, Dates gehabt und endlich "erfüllende Körperlichkeit" erlebt.

Ich bin immer noch der Meinung, wer es nicht schafft, dort hinzugehen (dazu zählen auch Foren etc.) wo "Gleichgesinnte" oder "Gleichfühlende" sind, der wird niemals einen Freund/Freundin oder neuen Partner finden.

Mir ist es mittlerweile egal, was die Leute denken, allerdings ist die Zeit vorbei in der ich es auf die Spitze treiben wollte, und es jedem erzählen wollte. Natürlich küsse ich meinen Freund, wenn er am Flughafen aus dem Gate kommt, natürlich küsse ich ihn, wenn ich ihn am Bahnhof absetze oder abhole ... ist mir doch wurscht, was die Leute denken. Direkt erzählen "tue" ich es nicht mehr, wenn es nicht zum Thema passt oder völlig ohne Belang ist (Beruf, Büro etc.). Und händchenhaltend gehen wir meist nicht durch die Fußgängerzone ;-)

(jetzt wo ich das schreibe, weiß ich garnicht ob ich ihn schon zu Hause vor Frau und Kindern geküsst oder richtig umarmt habe ... ja, so nimmt man unbewusst Rücksicht auf echte oder vermeintliche Befindlichkeiten ...)

Wünsche Dir viel Gück auf Deinem neuen Weg!

lg.
Victor
Re: Neuland betreten
13. Oktober 2012 23:12
zeev und Victor,
vielen Dank für eure Antworten!
Zielstrebigkeit ist tatsächlich nicht so meine Stärke, ich bin im Grunde meines Herzens eine große Träumerin. In Rahel Varnhagens Antwort auf die Frage "Was machen Sie?": " Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen," finde ich mich sehr wieder. Und so habe ich mich oft treiben lassen, nicht wissend, wohin es geht, aber mit der Zuversicht, dass alles, was passiert, letzten Endes zu irgendetwas gut sein wird. Geradlinig verliefen die letzten zehn Jahre nicht, aber sie waren schön und ereignisreich.
Ich bin sehr glücklich, dass ich letztendlich meiner wunderbaren Freundin begegnet bin. Selbst nach über neun Monaten bin ich noch wahnsinnig verliebt und jedes Wochenende, an dem wir uns nicht sehen (Fernbeziehung...), vermisse ich sie fürchterlich.
Das Bedürfnis, jedem von meinem neugefundenen Glück zu erzählen, hatte ich nie. Klar, die Freunde und die Familie, denen wollte ich natürlich von ihr erzählen. Aber schon bei Kollegen oder Bekannten ist es mir ein bisschen unangenehm, dadurch Aufmerksamkeit zu erregen - ich stehe nicht so gerne aufgrund meiner Sexualität im Mittelpunkt des Interesses. Aber letztendlich habe ich mir auch vorgenommen, nicht zu lügen. Wer mich nach meinem Freund fragt, der bekommt zu hören, dass es den nicht gibt, aber dafür eine Freundin. Ich bin auch der Überzeugung, dass es weniger für Gerede sorgt, wenn man um seine Sexualität nicht so ein Geheimnis macht.
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