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Goertz S (Hg.). "Wer bin ich, ihn zu verurteilen?"

geschrieben von quebrado 
Goertz S (Hg.). "Wer bin ich, ihn zu verurteilen?"
28. September 2015 17:42
Goertz S. (Hg.) . Katholizismus im Umbruch. Band 3. „Wer bin ich, ihn zu verurteilen“. Herder Freiburg 2015.

So kurz vor der Familiensynode scheint ein veritabler „Kulturkampf“ ausgebrochen zu sein. Ein Beispiel: Am 17.September plädiert Simon Lindner, ein Theologiestudent, auf der Website „katholisch.de“, immerhin ein von der Deutschen Bischofskonferenz initiiertes Webportal, für einen „unverkrampften Umgang mit Homosexualität“. Noch am gleichen Tag kanzelt das konservative kath.net Lindners engagierten Beitrag als „bizarre Gay-Propaganda“ ab. So kommt es nicht von ungefähr, dass erst vor kurzem ein Band erschien, der das Thema „Homosexualität und katholische Kirche“ aufrollt, dabei aber sachlich und profund vorgeht. Dieser Band hat das Zeug zu einem Standardwerk. Der Herausgeber, Stephan Goertz, Moraltheologe aus Mainz, will „die negative Bewertung von Homosexualität humanwissenschaftlich aufklären“ und „theologisch offen“ zur Diskussion stellen. Der Band greift viele Facetten, die das Streitthema zu bieten hat, auf, Exegese, human-und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, theologische-ethische Grundlagen und lässt auch aktuell strittige Themen wie rechtliche Regulierungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und gleichgeschlechtliche Elternschaft nicht aus. Einige Beiträge aus diesem sehr lesenswerten Buch seien nachfolgend herausgestellt.

Der Alttestamentler Hieke aus Mainz thematisiert die altbekannten Bibelstellen des Alten Testaments, ordnet die Levitikus-Stellen vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens ein. Für die sehr kleine Gemeinschaft von Jahwe-Gläubigen in der Nachexilzeit war Nachkommenschaft eine „Überlebensfrage“. Der Sodomitertext behandelt letztlich männliche Gewalt gegenüber Fremden. Der Neutestamentler Theobald aus Tübingen beschäftigt sich mit der zentralen Paulus-Stelle aus Röm 1,26f. und stellt eingangs klar: Der Begriff der Homosexualität taucht 1869 das erste Mal auf (siehe auch das kürzlich erschiene Werk von Robert Beachy. Das andere Berlin. Siedler 2015). Dahinter steckt ein „abgrenzbares, eigenständiges Konzept“, die „Vorstellung von einem eigenen Bereich personaler menschlicher Identität“. In der Antike gab es keinen „autonomen, abgrenzbaren Bereich von Sexualität“. „Sexuelle Begierde und Lust waren untrennbar verbunden mit Macht- und Herrschaftsbeziehungen.“ Die Stelle ist ein Teil einer „prophetischen Gerichtsrede“ und hatte keinen pastoralen Anlaß. Für Paulus haben gleichgeschlechtliche Praktiken die Qualität entschlusshafter Abkehr vom „natürlichen Umgang mit Frauen“. Es geht um Praktiken, nicht um personale Identität. Am Ende greift Theobald Gal 3,28 heraus: „Da ist nicht Jude noch Grieche, Sklave noch Freier, Männliches und Weibliches (hier ist das Geschlecht, nicht die soziale Rolle gemeint), denn alle seid ihr Einer in Christus Jesus“. Es kann eine Schlüsselstelle für eine „kirchliche Beheimatung unterschiedlicher personaler Identitäten und Orientierungen“ sein. Heilsgeschichtlich macht es keinen Unterschied, ob man „homosexuell“ und „heterosexuell“ veranlagt ist. Bestechend die argumentative Tiefe, die über das lesenswerte Buch „Streitfall Liebe“ von Valeria Hinck hinausgeht.

Der Kieler Sexualmediziner Bosinski diskutiert anthropologische Aspekte der Homosexualität. Interessant der „Intraspecies-Aspekt“. Studien zeigen ein gleiches Interesse an sexuellen Gelegenheitskontakten, egal ob hetero- oder homosexueller Mann. Der Heterosexuelle scheitert am deutlich geringeren Interesse der Frauen an unverbindlichen Sexualkontakten. Heterosexuelle Männer können eben nicht wie sie wollen. Die 2D:4D-Ratio bei homosexuellen Männern entspricht hingegen meist der von Frauen (d.h. Ring- und Zeigefinger sind gleich lang). Dies trifft auch für die Struktur und Größe des INAH (interstitiellen Nucleus des anterioren Hypothalamus) 3 zu. Hetero- und homosexuelle Männer unterscheiden sich in räumlicher Orientierung und Aggressionsverhalten in der Kindheit. Diese beiden psychischen Merkmale hängen aber entscheidend von der Wirkung pränataler Androgene ab. So werden in einer bestimmten vorgeburtlichen Phase unter dem Einfluß von männl. Geschlechtshormonen Gehirnstrukturen organisiert, die erst später im Leben aktiviert werden (Modell der pränatalen Gehirnandrogenisierung). Homosexuelle Orientierung ist nicht krankhaft, denn „Abweichungen vom Mittelwert“ gehören zum „Konstituens des geschlechtstypischen Unterschieds“ und der „Maßstab für eine krankhafte Störung ist das Leiden an einem regelwidrigen Geistes- oder körperlichen Zustand“. Homosexuelle Menschen leiden nicht an der „Ausprägung ihrer sexuellen Orientierung, sondern an den Folgen einer gesellschaftlichen Norm“. Hier fehlen mir neuere evolutionsbiologische Erkenntnisse, so die „kin selection“-Hypothese. Homosexualität bietet demzufolge der Sippe („der schwule Onkel“) einen Überlebensvorteil, sie hat also, wenn man so will, „reproduktive Funktion“.

Der Herausgeber selbst widmet sich der Entwicklung lehramtlichen Denkens. Auch hier wieder die Unterscheidung in „Same sex behavior“ und „Homosexualität“, das die beiden Exegeten bereits herausstellten. Nach der Entdeckung der Homosexualität Mitte des 19. Jahrhunderts rezipiert die Moraltheologie humanwissenschaftliche Erkenntnisse lange nicht. Homosexualität bedeutete „genitaler Kontakt“, nicht „personale Begegnung“. Die Situation ändert sich mit John F. Harvey, der 1955 eine Unterscheidung trifft zwischen „schuldloser Veranlagung“ und „sündhafter Betätigung“. Und der uns Schwulen auch die Liebesfähigkeit abspricht. Das war neu. Aus dem „moralisch falschen Akt des same sex behavior“ wird ein „moralisches Problem der gesamten Person“. Anders Herman van de Spijker 1968, der Homosexualität als personale Begegnung würdigt, dennoch an der bisherigen Norm festhält. Heilung oder Rückkehr zur Normalität schließt er, anders als Harvey, aus. Das Lehramt nimmt erst 1975 mit „Persona Humana“ Stellung und knüpft an die Linie Harveys an. Gleichzeitig schält sich eine neue moraltheologische Linie heraus: Bei Charles Curran folgt das Handeln dem Sein („Agere sequitur esse“). Im Rahmen einer personalen Beziehung ist Gleichgeschlechtlichkeit „objektiv moralisch gut“. Sexualmoral als Beziehungsethik, später ausformuliert von Margaret Farley. 1983 will hingegen die „Orientierung zur Erziehung in der menschlichen Liebe“ der Kongr. für kath. Bildungswesen Homosexuellen Mut machen, „zur Befreiung von sich selbst und zum Voranschreiten in der Selbstbeherrschung“. Selbstbefreiung statt Selbstannahme. Die Schrift „Homosexualitatis problema“ (!) der Glaubenskongregation von 1986 beruft sich anders als Persona Humana wieder auf die einschlägigen Bibelstellen, Maßstab ist unmissverständlich „different sex behavior“. Homosexuelle sind „vor einem Leben zu bewahren, das sie fortwährend zu zerstören droht“. Die lehramtlichen Äußerungen kulminieren im KKK. In der 1997 revidierten Fassung wird nicht mehr von einer „nicht selbstgewählten Veranlagung“, sondern von „tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen“ gesprochen. Homosexualität wird zur Entscheidung der Person. Der Autor zeichnet die Entwicklungslinien scharf nach. Unter Johannes Paul II haben sich, dies wird klar, Moraltheologie und Lehramt weit voneinander wegbewegt.

Von den zwölf Beiträgen sei am Ende noch auf Brinkschröders Beitrag eingegangen, der die theologischen Denkweisen hinter der Diskriminierung von Schwulen, etc. aufzudecken versucht. Er greift dabei auf die Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe zurück. Vier Diskurse macht der Autor aus, die die christliche Antihomosexualität zum Teil bis heute prägen: 1. Der archaische Diskurs der kultischen Reinheit, 2. der apokalyptische Diskurs der Sodom-Eschatologie, 3. der naturrechtliche Diskurs der Moraltheologie und 4. der christlich-platonische Diskurs der Brautmystik. Von besonderem Interesse ist die bis in die heutige Zeit reichende Argumentation anhand des Naturrechts. Prägende Gestalt war Thomas von Aquin, seine Theologie versucht eine Synthese zwischen Augustinus und der Philosophie des Aristoteles. Im Falle der Gleichgeschlechtlichkeit übernimmt Thomas aber den offenbarungstheologischen Naturbegriff von Augustinus und läßt den empirischen Naturbegriff des Aristoteles unberücksichtigt. Aristoteles nahm gleichgeschlechtliches Verhalten im Tierreich zur Kenntnis. Von daher könne es nicht als widernatürlich gelten. In der Spätscholastik 16./17. Jahrhundert - die Neuscholastik im 19./20.Jahrhundert hielt daran fest - wandelte sich die Moraltheologie von einer Tugendlehre zu einer „Sündenkasuistik“. Gleichgeschlechtliche Sexualität widerspricht der Natur des Menschen, sich fortzupflanzen. „Ob die Prämisse über die Natur des Menschen stimmt, wird dabei der empirischen Kritik entzogen und stattdessen als zeitlose Norm dargestellt. Daher kann man den naturrechtlichen Diskurs weniger als homophob, sondern besser als heteronormativ klassifizieren.“ Die neuscholastische Tradition begann sich nach dem 2.Vatikanum in „Persona Humana“ wieder durchzusetzen. Brinkschröder sieht die Gründe der negativen Bewertung von Homosexualität durch die kath. Kirche mehr in der Theologie der Brautmystik (Kirche als Braut Christi, Seele (nicht der Körper!) als Braut des Logos) als im neuscholastischen Naturrechtsdenken. Dennoch hätte ich mir hier eine weitergehende kritische Auseinandersetzung mit dem thomistischen Naturrechtsdenken und seiner mißbräuchlichen Anwendung gewünscht.

Welcher Eindruck bleibt am Ende der Lektüre? Denkstrukturen werden offengelegt, in ihrem historischen Kontext erklärt, viele Perspektiven formuliert. Der Leser wird mit hoher intellektueller Schärfe belohnt. Das Buch ist Aufklärung im besten Sinne. Es liefert ein Füllhorn an Argumenten für unsere Sache.



3-mal bearbeitet. Zuletzt am 06.10.15 14:24.
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